Adam Higginbotham: Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten

Gleich vorab eine Warnung. Es ist völlig sinnlos, dieses Buch locker auf der Couch sitzend lesen und verstehen zu wollen. Das Buch ist fast so dick wie die Ummantelung eines Kühlstabes und stellt an die physikalischen Kenntnisse und Exzerptionsbereitschaft des Lesers erhebliche Anforderungen. Aber es lohnt sich. Wer also mit Papier und Bleistift dem Werk zu Leibe rückt, das eine oder andere nachschlägt und vertieft,  wird  wahrscheinlich zum ersten Mal verstehen, was sich in Tschernobyl wirklich abgespielt hat.

  1. Physikalische Grundbegrifflichkeiten 

Higginbotham  beschreibt, dass man sich die Dichte eines Atoms etwa so vorstellen müsse, als seien sechs Milliarden Fahrräder in einen Koffer gepresst worden. Das ist ganz schön dicht und macht verständlich, welche Energie freigesetzt wird, wenn man diese Dichte „knackt“, das heißt,  den Atomkern spaltet.

Die zivile Nutzung der Kernkraft unterscheidet sich von der militärischen nun dadurch, dass die Energie sich bei der Kernspaltung nicht blitzartig (Bombe) entlädt, sondern sukzessive über einen längeren, kontrollierbaren  Zeitraum „gestreckt“ werden muss. Es muss also eine kontrollierte Kettenreaktion bewerkstelligt werden. Der  Rohstoff für die Energiegewinnung ist Uran, Uran wird aus Uranerz gewonnen und in Brennstofftabletten gepresst. Diese Tabletten, auch Pellets genannt, enthalten rund nur fünf Prozent spaltbares Uran 235. Die Brennstofftabletten im Kernkraftwerk werden in Metallrohre, in sogenannte Brennstäbe, eingeschlossen und kommen als solche in ein dickwandiges Reaktordruckgefäß, wo die Brennstäbe von Wasser umspült werden. Der Kernbrennstoff ist damit einsatzbereit. Aber wie wird nun die Energie gewonnen? Der Urankern besteht aus Neutronen und Protonen. Trifft ein zusätzliches Neutron auf diesen Atomkern, wird dieser instabil und spaltet sich auf. Bei dem Spaltungsprozess entstehen Wärme und zusätzlich zwei bis drei weitere Neutronen. Diese lösen, verlangsamt durch Wasser oder Graphit (Moderatoren), weitere Spaltungen aus: Es kommt zu einer Kettenreaktion, die von den „Operatoren“, also der Zentrale des Kernkraftwerks, IM IDEALFALL exakt gesteuert und kontrolliert werden kann. Das geschieht, indem die wassergekühlten Steuerstäbe mehr oder weniger tief in den Reaktor eingefahren werden:

Soweit so theoretisch. Ansatzweise wird deutlich, wie heikel man sich die Steuerung der Kettenreaktion in AKWs vorstellen muss. Dabei sit eine weitere  gefährliche Komplikation noch gar nicht berücksichtigt: der  „Dampfblaseneffetkes“ (Void-Koeffizient). Er beschreibt den Umstand, dass durch die Verdampfung des Kühlwassers die Bremswirkung der Geschwindigkeit der Kernspaltungen herabgesetzt werden kann. Es besteht also die Gefahr, dass die Kettenreaktion immer schneller abläuft und sich schließlich in einer Explosion entlädt. In der Nichtbeherrschung des Dampfblaseneffektes durch die sowjetische Technologie liegt im Wesentlichen die Ursache für die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, auch wenn Bedienung- und Wartungsfehler die Katastrophe noch beschleunigten Westliche Kernkraftwerke sind so konstruiert, dass sie sich automatisch bei zu weitgehender  Verdampfung abschalten. Das aber auch das nicht immer funktioniert, zeigt der Atomunfall von Three Miles Island in den USA 1979.

Da es in der ganzen Welt immer wieder zu Havarien in Kernreaktoren kam, unterzeichneten die Regierungen der forschenden Nationen im Jahre 1957 ein Vertrag, der sie zur absoluten Transparenz im Falle von Unfällen verpflichtete. Dieser Vertrag hat die UdSSR bei nahezu allen schweren Unfällen missachtet. Die Katastrophe von Tscheljabilsk im Südural, wo ein kompletter  Tank mit hochradioaktivem Plutoniumabfall in die Luft flog, wurde komplett vertuscht.

  1. Tschernobyl, der Ort

In den späten Sechziger Jahren geriet die UdSSR, ursprünglich technologisch führend in der Konstruktion von Kernreaktoren, gegenüber der westlichen Technologie in Rückstand. Trotzdem war man entschlossen, die Atomkraft als Energie der Zukunft ins Gigantische auszubauen. Obwohl  grundlegende Steuerungsfragen noch nicht geklärt waren, plante man von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer den Bau einer Kette von neuen gigantischen Atomkraftwerken, die den Energiebedarf  der UdSSR  für alle Zeiten decken sollten.

Der 1970 in Betrieb genommene Reaktor von Tschernobyl war der größte Atomreaktor der Welt und galt als das Vorzeigeprojekt dieser Politik. Es lag in der Nähe der Stadt ukrainischen Stadt Prypjat am gleichnamigen Fluss, der weiter südlich in den Dnjepr mündete. Die ukrainische Hauptstadt Kiew befand sich in 130 Km Entfernung.

Von Anfang an, so Higginbotham, war Tschernobyl eine Zeitbombe.  Niemand wusste, wie sich der Void-Koeffizient im Ernstfall auswirken würde. Aufgrund der puren Größe des Reaktors waren partielle Überhitzungen in einzelnen Segmenten nicht sicher lokalisierbar. Hinzukam die übliche kommunistische Schlamperei, etwa bei Ventilen und Leitungen, die manchmal einfach nicht funktionierten. Aus entsprechenden Störfällen im Kernkraftwerk in Leningrad wurden keine Konsequenzen gezogen. Als es im September 1982 es beinahe bereits zu einer Kernschmelze in Tschernobyl gekommen wäre, wurden die Vorgänge vertuscht. Weitere Untersuchungen ergaben, dass AZ-5, die Notabschaltung mitunter völlig paradoxe gegenteilige Effekte hervorrief.

  1. Die Katastrophe

Am 25. April 1986 sollte im Zuge einer Routineüberprüfung der Block 4 von Tschernobyl abgeschaltet werden. Nachträgliche Untersuchungen haben ergeben, dass sich der Reaktor schon zu diesem Zeitpunkt in einem ruinösen Zustand befand. Die Operatoren in der Zentrale steuerten das Geschehen an diesem Tag gleichsam im Blindflug, von ihrer schlechten Ausbildung einmal ganz

Helikopter-Aufnahme vom zerstörten Kernkraftwerk Tschernobyl, aufgenommen einen Tag nach der Katastrophe. Foto: USFCRFC via Wikimedia; CC2-Lizenz; creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de

abgesehen.  Als der Reaktor heruntergefahren wurde, kam es aufgrund des Dampfblaseneffektes in verhängnisvoller Verbindung mit den Graphitblöcken zu einer Kettenreaktion, die sich als nicht mehr beherrschbar erwies.    Um 01;23 Uhr in der Nacht vom 25. Auf den 26. April explodierte ein ganzer Reaktorblock und sprengte den tausend Tonnen schweren Betondeckel in die Luft.  „Es war ein entsetzlicher, apokalyptischer Anblick“ fasst Higginbotham den Bericht eines Augenzeugen zusammen.  „Das Dach der Reaktorhalle fehlte, und die rechte Wand war durch die Wucht der Explosion fast vollständig zerstört worden. Die Hälfte des Kühlkreislaufs war einfach verschwunden.“ Eine gespenstisch leuchtende weiße Säule aus blauweißem Licht entströmte dem frei liegenden Reaktorkern und strahlte in die Nacht wie eine Menetekel für das Ende der Welt. Eine tödliche Wolke aus Radioaktivität, zweihundertmal stärker als die Radioaktivität der Hiroshimabombe, begann ihre tödliche Reise über Europa.

Es dauerte über einen Tag, ehe der Regierung in Kiew und der Parteileitung in Moskau klar wurde, welche Katastrophe geschehen war. Generalsekretär Gorbatschow, der soeben erst „Perestroika“ und „Glasnost“ ausgerufen hatte, versuchte zunächst das Ausmaß der Havarie zu vertuschen.   Eine Nachrichtensperre wurde verhängt, während die Einwohner der Stadt Prypjat evakuiert wurden. Der strahlende Reaktorblock wurde aus der Luft mit Sand, Blei und Beton zugeschüttet. Freiwillige krochen unter den glühenden Reaktorblock, um weitere Kettenreaktion zu verhindern. Ausführlich beschreibt Higginbotham das Ausmaß das in diesen Tagen von den Feuerwehrleuten und Reparaturteams gezeigt wurde.

Inzwischen wurden bereits am 28.4., einem Montag, überall in Nordeuropa extrem hohe Radioaktivität gemessen Ein Schuh, mit dem schwedische Wissenschaftler nach einem Regenguss am 28.4. durch den Matsch gelaufen waren, enthielt Spuren von  Cäsium 137, Cäsium 134,    Kobalt 60 und Neptunium 239, in dieser Zusammensetzung ein eindeutiger Beleg für eine gigantische Atomkatastrophe in Osteuropa.

Während im Westen Panik ausbrach, versuchten die Sowjets weiter, Informationen zurückzuhalten. Als am 30. April der Wind drehte und sich die radioaktive Wolke auf Kiew zu bewegt, versuchte der Bürgermeister der Stadt, den Ministerpräsidenten der Ukraine zu überreden, die 1. Mai-Fier ausfallen zu lassen. Dieser verweigerte seine Zustimmung und verlangte, dass zur Beruhigung der Öffentlichkeit auch die Parteiprominenz mitsamt ihren Familien in der Öffentlichkeit erscheinen sollte.   Ein seit langem angekündigtes internationales Radrennen zum 1. Mai in Kiew wurde nicht abgesagt. Die US-Mannschaft allerdings reiste sofort ab, nachdem die amerikanischen Nachrichtendienste von der hohen Strahlenbelastung berichtet hatten. Die polnische Mannschaft, die auch kein Lust zur Teilnahme verspürte, wurde zur Anreise nach Kiew gezwungen.  Higgingbotham beschreibt die weitere Entwicklung:  „Später, als der Wind erneut drehte und die Radionuklide nach Norden, in Richtung Moskau trug, flogen sowjetische Piloten wiederholt Einsätze, um die Wolken mit Silberjodid zu impfen und so zum Abregnen zu veranlassen. Die Hauptstadt blieb verschont. Doch dreihundert Kilometer weiter südlich, in Weißrussland, mussten Bauern zusehen, wie Hunderte Quadratkilometer ihres fruchtbaren Ackerlands von schwarzem Regen überzogen wurden.“

  1. Die Aufarbeitung und die Folgen

1987 wurden sechs Kraftwerksdirektor, Schichtleiter und Operatoren angeklagt und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Die Mitverantwortung der Kernkraftwerkskonstrukteure und damit der offiziellen Stellen wurde unter den Teppich gekehrt. Übrigens liefen die ganze Zeit bis zur jahrtausendwende die anderen Reaktoren von Tschernobyl mit den gleichen Konstruktionsfehlern weiter.

   Higginsbotham vertritt die Ansicht, dass die schließlich erzwungene Transparenz über das eklatante Systemversagen bei der Katastrophe von Tschernobyl sich verselbständigte und zum Sargnagel des Sowjetimperiums wurde. Die fundamentale Enttäuschung der Menschen über eine Regierung,  die sich nicht entschließen konnte, ihre Bevölkerung zu schützen,  war nicht mehr einzuholen. Deswegen entschloss sich Gorbatschow zur Totalrevision des Systems, die allerdings misslang und zum Zusammenbruch des totalitären Sowjetkommunismus führte.

In diesem Kontext erschien 1989 der „Medwedjew Bericht“ in der Zeitschrift „Nowy Mir“, in dem zum ersten Mal Ross und Reiter genannt wurden. „Medwedew beschrieb darin Wiktor Brjuchanow als rückgratlosen Dummkopf, die Bonzen der sowjetischen Atomindustrie als kaltschnäuzig und inkompetent und zeigte, wie Schtscherbina die Evakuierung der dem Untergang geweihten Atomstadt unnötig hinausgezögert hatte. Das Nachwort lieferte der bekannteste Dissident der UdSSR, Andrei Sacharow, der von Gorbatschow kurz zuvor aus der Verbannung entlassen worden war. „

Nach Tschernobyl begann das System langsam aber sicher zu kollabieren. Geschlagen kehrten die Soldaten der Roten Armee aus Afghanistan zurück. Der Einbruch des Ölpreises wirkte sich katastrophal auf den Staatshaushalt aus. Immer neue Skandale und Peinlichkeiten kamen in der neuen Transparenz ans Licht und raubten dem System den letzten Kredit. 1991 brach die  UdSSR schließlich  auseinander.

Soweit in aller Oberflächlichkeit der Inhalt des vorliegenden Buches, das ein Epochenereignis beschreibt, das die Weltgeschichte verändert hat. Als Sachbuch handelt es sich um einen echten Achttausender. Wie aber gelingt es dem Autor die komplizierte Thematik zu entfalten? Mit einer gelungenen Mischung aus Sachdarstellung und sehr persönlich gehaltenen Portraits der handelnden Personen. Eine besondere Stärke des vorliegenden Buches besteht darin, die Menschen hinter der Katastrophe sichtbar zu machen, die Helden und die Schurken, die Inkompetenten und die Gleichgültigen, und auch die Opfer erhalten Kantor und Gesicht. Am bedrückendsten erscheint die Geschichte von Valerie Alexejewitsch Legassow, einem Atomwissenschaftler, der 60 Tage lang im verstrahlten Gebiet von Tschernobyl die Erkundungs- und Rettungsarbeiten leitete und sich dabei eine tödliche Strahlenkrankheit zuzog. Bei der von ihm angestrebten Aufarbeitung der Katastrophe  zwischen 1986-88 wurde er allerdings von den Konservativen (und Gorbatschow, der in dem Buch keine gute Figur abgibt) ausgebremst.  Er nahm sich todkrank und verzweifelt am 27. April 1988, ziemlich genau zwei Jahre nach der Havarie, das Leben, nicht ohne ein Tonband zu hinterlassen, auf dem er der Welt die ungeschminkte Wahrheit mitteilte. Dieses Tonband wurde in der Ära Jelzin veröffentlicht.  Legassow ist übrigens die Hauptperson der amerikanischen HBO-Serie „Chernobyl“, die im Jahre 2019 die die Katastrophe von Tschernobyl in schmerzhafter Eindringlichkeit visualisierte.

 

 

 

 

 

 

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