Andric: Die Brücke über die Drina

Andric DrinaAm Anfang hat Gott die ganze Erde topfeben geschaffen, heißt es in einer der zahlreichen Erzählungen des vorliegenden Buches, damit sich die Menschen ohne große Schwierigkeiten von einem Ort zum nächsten bewegen können. Dann aber zerkratzte der Satan in seiner Missgunst die ganze Erdoberfläche, so dass Berge, Schluchten und Täler entstanden. Damit die Menschen sich auch weiterhin auf der Erde fortbewegen können, schenkte ihnen der Herr in seiner Gnade die Brücke, die neben dem Brunnen größte Gabe der Schöpfung an das Menschengeschlecht.
Von einer solchen Brücke, der Brücke über die Drina, handelt auch das vorliegende Buch. Entstanden ist die Brücke als Geschenk des weisen Wesirs Mechmet Pascha, der im 16. Jhdt. von den Türken aus seiner Heimat im Umkreis der Stadt Wischegrad verschleppt wurde. Unter unsäglichen Mühen und unter Einsatz schockierender Gewalt erbaut, wird sie mit der Zeit zum Symbol einer kosmopolischen balkanesischen Welt, in der die Angehörigen der moslemischen,

1 (295)

christlichen und der jüdischen Bevölkerung friedlich nebeneinander auf der Kapija, der terrassenförmigen Mitte der Brücke, sitzen um ihren Kaffee zu trinken oder ihre Geschichten zu erzählen.
Diese Geschichten und Mythen der Menschen von der Drina machen einen Großteil des vorliegenden Buches aus. Es sind Sagen von eingemauerten Kindern, unglücklichen Liebespaaren, Helden und Halunken jeder Art, die alle mit der Brücke zu tun habe, sei es, dass sie die Brücke zerstören wollen, dass sich dort in der Nacht die Liebenden treffen oder die Bösewichter dort ihre schrecklichen Strafe erleiden.
Doch unmerklich gerät die Weltgeschichte in Bewegung und verändert die scheinbar so unverrückbare Welt von Wischegrad. Zuerst ziehen sich um 1700 die Türken aus Ungarn zurück, die regelmäßigen Einkünfte zum Unterhalt der Karawanserei entfallen, und die erste Ruine entsteht. Als nach 1800 die serbischen Aufstände gegen die Türkenherrschaft den Balkan erschüttern, erhält die Brücke ein Wache und bald verunzieren die Köpfe ermordeter Christen die Brücke über die Drina. 1878, nach dem Berliner Kongress, kommt Bosnien- Herzegowina und damit auch Wischegrad unter österreichisch-ungarische Verwaltung, und mit den gepflegten und agilen „Schwaben“ ( ein Sammelbegriff für die Mitteleuropäer) zieht mit Macht die Moderne ein. Es entstehen Hotels, Eisenbahnen, Freudenhäuser, Spielkasinos, Straßenbeleuchtung und eine allgemeine Wehrpflicht. Die Schwaben und ihre rätselhaften Errungenschaften beschleunigen das Leben auf eine beunruhigende Weise, es wird leichter Geld verdient, aber auch verloren, die Jugend arbeitet nicht mehr auf den Feldern sondern geht auf das Gymnasium nach Sarajewo und kommt mit halbgaren Ideen von serbischer Freiheit nach hause.
Als nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo der Erste Weltkrieg ausbricht, ist es mit dem gedeihlichen Leben in Wischegrad entgültig vorüber. Die Stadt wird geräumt, die Brücke wird gesprengt, und die multikulturelle Eintracht an der Drina verschwindet im Orkus der Geschichte.
Es ist ein Roman zwischen Märchen und Tragödie, die Ivo Andric auf über 400 Seiten so erzählt, als säße er selbst auf einer wieder erbauten Kapija. Dutzende Geschichten aus vier Jahrhunderten werden zu einem west-östlichen Diwan verwoben, in dem es keine Schwarz-Weiß-Urteile gibt, sondern in denen jede Seite, die moslemische, die christliche und die jüdische ihr Recht erhält. Erst am Ende, als die Dinge nach der vielleicht etwas idealisierten guten alten Zeit, aus dem Ruder zu laufen beginnen, bezeiht das Buch Position – gegen den Nationalismus, der als eine Variante der menschlichen Eitelkeit erscheint, gegen die ideologisierte Jugend und die modernen Pseudointellektuellen, die jegliche Bodenhaftung zum Volk verloren haben. Der erste Weltkrieg, mit dem das Buch endet, verschlingt dann alles, ohne dass klar wird, in welche Richtung sich die Geschichte weiter entwickeln wird.
„Die Brücke an der Drina“, in einer abgehobenen, poetisch ambitionierten Sprache erzählt wird, ist Literatur im besten Sinne. Der Roman unterhält und unterrichtet zugleich und wäre die ideale Lektüre für eine Reise nach Srebenitza, Banja Luka oder Sarajewo, wenn nicht dort die Entzweiung, die am Ende des Buches beschrieben wird, in extrem verstärkten Formen weiter leben würde. Denn mit der zerstörten Brücke von Mostar hat die Wirklichkeit die Literatur auf eine schreckliche Weise bestätigt und überboten.

Kommentar verfassen