Applebaum: Der Gulag

Applebaum GulagNicht überall, wo es Vernichtungslager und Gulags gibt, herrschen die Kommunisten, aber überall dort, wo die Kommunisten an die Macht kommen, kann man sich darauf verlassen, dass über kurz oder lang ein Gulag-System entsteht. Das ist in aller Kürze die Moral des vorliegenden Standardwerkes über den sowjetischen Gulag, jene neben den Nazi-KZs schrecklichste Vernichtungsinstitution der Menschheitsgeschichte.
:“In den Gulag kommt man nicht, weil man etwas getan hat, sondern weil man etwas ist.“, schreibt die Autorin und verdeutlicht damit das Monströs-Unentrinnbare, das dieses System anhaftete. Schon seit Lenin bedeutete das: ab in den Gulag weil man Adliger, Bürger, Kulak, Offizier, Pole oder Balte war – ganz gleich, was man getan hatte. Stalin hat diese Kategorie dann noch ins Absurde gesteigert: auf S. 135 des vorliegenden Buches ist eine Tabelle abgedruckt, in der für das Jahr 1937 genau definiert wurde, wielviel Menschen aus jeder Sowjetrepublik in den Gulag zu überführen seien – wo man sie sich herholte, war gleich. Sie wurden in der Straßenbahn, auf der Straße, in den Betrieben oder einfach nur deswegen verhaftet, weil sie einem Tschekisten über den Weg liefen. Deswegen kennt der sowjetische Gulag auch keine regelrechten Vernichtungslager wie etwa Auschwitz oder Treblinka, sie Kommunisten bevorzugten die hemmungslose Ausnutzung jeder Arbeitskraft bis an den Rande des Todes, und wenn die Häftlinge eines Lagers dann wirklich keine Hand vor Entkräftung mehr heben konnte, wurden sie einfach in Massenexekutionen erschossen. Wie viele erfroren sind, wie viele verhungert, erschlagen, totgeprügelt oder einfach nur bei Arbeitsunfällen ums Leben kamen, wird man nie erfahren. Sicher ist nur eines: es waren Millionen.
Unter alle den schrecklichen und ergreifenden Geschichten, die das Buch nachzeichnet, gibt es eigentlich nur zwei erfreuliche: die erste ist natürlich die Aufhebung des Gulagsystems unter im Jahre 1987 unter dem neuen Generalsekretär Gorbatschow. Die zweite besteht in dem Umstand, dass am Ende der großen Säuberung in den Dreißiger Jahren die Henker des Gulags selbst entweder in den Gulag mussten oder erschossen wurden.
Weniger erbaulich ist, dass nach der Meinung der Autorin eine Aufarbeitung dieser totalitären Gulag-Epoche bis heute in Russland unterblieben ist. Zu viele Menschen sind zu lange von dem System korrumpiert worden, als dass ein Interesse an einer Aufarbeitung bestehen könnte. Möglicherweise liegt in dieser moralischen Proletarisierung, mit der der Kommunismus die Völker unter seiner Herrschaft infiziert, eines der noch viel zu wenig beachteten Spätfolgen dieses totalitären Herrschaftsystems. Die weltanschauliche Einäugigkeit des Westens unterstützt diesen historischen Autismus leider auch noch in verhängnisvoller Weise. Die Autorin vermerkt mit Recht, wie sehr dem Philosophen Heidegger seine Parteinahme für die Nazis geschadet hat. Niemand aber käme auf die Idee, einen kritischen Blick auf Sarte zu werfen, der noch, als das Gulag System und der Sowjetterror europaweit bekannt war, das totalitäre Russland verteidigte.Applebaum Gulag

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