Arthur Miller. Zeitkurven

Miller ZeitkurvenZu den geistigen Vätern unserer libertären Epoche gehört sicher auch der amerikanische Dramatiker Arthur Miller. Nicht nur, weil der „Tod eines Handlungsreisenden“ und „Hexenjagd“ zu Klassikern der Moderne geworden sind, sondern auch weil er als einer der Großväter der 68er Epoche all das noch am eigenen Leib erleben und erkämpfen musste, was seinen geistigen Enkeln gleichsam in den Schoß fiel. Wo seine Enkel persönliche Befreiung durch Sexualität zu praktizieren suchten, war Arthur Miller selbst der öffentliche Ehemann von Marilyn Monroe, dem größten Sexsymbol des 20. Jhdts. Wo die 68er Studenten brutale Tribunale über ihre Professoren abhielten, musste sich Miller als liberaler Autor der Gesinnungsschnüffelei der McCarthy Ära stellen.
Es ist ein weiter Schwung durch die Jahrzehnte und Kontinente, die Arthur Miller am Beispiel seines Lebens in den autobiographischen „Zeitkurven“ beschreibt. Gott sei Dank handelt es sich dabei nicht um eine klassische Autobiographie, die bei der Geburt anfällt und alle Lebensjahre bis zum bitteren Ende so lange durchkaut, bis der Leser das Buch entnervt zur Seite legt. Wie schon der Titel andeutet, „kurvt“ Miller durch seine Zeit, springt die Jahrzehnte vor und zurück und weis jede Lebensbiegung mit der vollen Weisheit seines Alters auszumalen. Bei dieser sehr komplexen und verschachtelten Erzählhaltung geht es eigentlich immer nur um drei Lebensthemen: Literatur und Theater, Politik und Gesellschaft und (am Beispiel der Schilderungen seiner Ehe mit Marilyn Monroe) auch um Liebe und Vergänglichkeit. Natürlich gehören diese drei Lebenskreise untrennbar zusammen, denn Millers soziales Sensorium lässt ihn Themen aufgreifen, die ihn mit der antikommunistischen Öffentlichkeit in Konflikt geraten lassen, seine Ehe mit Marilyn Monroe macht ihn zur einer landeweit beachteten Gestalt, was Miller geradezu deprimierenden Einsichten in die Natur der modernen Massengesellschaft eröffnet. Doch so komplex diese Verschachtelungen auch sein mögen – Miller gelingt es auf jeder der über 800 Seiten des vorliegenden Buches den Leser mit seiner Sprache und seinem Erzählduktus bei der Stange zu halten. Hunderte von Personen treten in diesem Lebenspanorama auf ( vgl. etwa das monumentale Personenverzeichnis) , doch eine jede wird kurz und ungemein anschaulich charakterisiert. Situationskomik und Makabres folgen in unterhaltsamster Manier aus Reflexionen und Urteile – etwa die Minatur, in der Miller und Saul Bellow neben einander allein in ihren Ferienhäusern an einem einsamen See in Nevada auf ihre Scheidungen warten und gelegentlich zum Einkaufen nach Reno fahren – oder die psychologische Charakterisierung des polnischen Hausmeisters Mikusch, die wie eine Karikatur von Adornos autoritärer Persönlichkeit“ daherkommt. „Ein Theaterstück, selbst ein zorniges und kritisches, ist immer ein Liebesbrief an die Welt, von der man sehnsüchtig eine liebevolle Antwort erhofft“(S.320) schreibt Miller über die Motivation des Dichtens. Oder über das Ende einer Beziehung: „Die anhaltende Frustration machte Schuld zum Prinzip des Lebens, und keiner von uns konnte dem entrinnen. Wir hatten beide versagt, die Zauberformel zu finden, die das Leben des anderen hätte verändern sollen. Wir waren, wie wir früher gewesen waren – nur schlimmer.“ ( S. 575f.) Man könnte ein ganzes Brevier allein mit solchen Anmerkungen füllen, die jedem, der sie liest, weit über dieses Buch hinaus den Horizont des eigenen Lebens erhellen.
Natürlich ist von heute gesehen auch manch Überholtes zu lesen, aber wie sollte das bei einem Buch über ein ganzes Leben auch anders sein? Was Miller über den Vietnamkonflikt schreibt, zeugt von rührender Unkenntnis (S.137) , dass er dem konservativen Dichter Ezra Pound die Meinungsfreiheit abspricht, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, lässt die Intoleranz seiner politisch korrekten Nachfolger erahnen. Doch auf der anderen Seite war er nicht so vernagelt, betonkommunistische Verbrecher wie Mao oder Stalin für eine bessere Alternative zu halten. Bei aller Kritik an seinem Land, die er bis in zum Ende seines neunzigjährigen Lebens übte, galt für die USA insgesamt doch immer das, was er dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe vortrug: (Ich sprach) „über das Glück, in einem Land geboren zu sein, dessen Väter vorausgesehen hatte, dass die Macht grundsätzlich ein Idiot ist, der um jeden Preis durch ein Netz von Regeln gezügelt werden muss, die so elementar und so klar sind, dass man sie sogar diesem Idioten beibringen kann.“(S. 543).
Sprachlich, sachlich und moralisch nach meiner Meinung ein Buch auf allerhöchstem Niveau, für das fünf Sterne noch viel zu wenig sind.

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