Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt

„Die Eule der Minerva beginnt am Abend ihren Flug“, sagt Hegel und meint damit, dass erst am Ende einer Epoche ihr Wesen sichtbar wird. Ohne dieses geniale Bonmot anzweifeln zu wollen, bietet das vorliegende Buch ein Gegenbeispiel. Timothy Garton Ash beschreibt in diesem Buch als Augenzeuge die große Transformation Europas in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, beginnend mit der Agonie der DDR und der Papstreise nach Polen bis zum Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme um 1990. Es handelt sich um das Buch eines historisch gebildeten Augenzeugen, das Erlebnis und Analyse auf eine Weise zur Deckung brachte, die bis unüberholt geblieben ist.

Budapest, eine Perle Mitteleuropas

In zweifacher Weise kann dieses Buch gelesen werden: als geschichtlicher Abriss eines epochalen Umbruchs in Ost-Berlin, Warschau, Prag, Budapest und anderswo –  und als eine Abhandlung über „Mitteleuropa“. Denn „Mitteleuropa“ war es, das in der Krise der achtziger Jahre zur Überraschung der Welt wieder hervorbrach, die Blöcke von Jalta aufweichte und eine Gemeinsamkeit wieder ans Licht brachte, die nie ganz verschwunden, sondern nur verdeckt war. In dem Kapitel „Mitteleuropa. Wo liegt es?“, dem theoretischen Kern des vorliegenden Buches, arbeitet der Autor am Beispiel der Schriften des Tschechen Vaclav Havel, des Polen Adam Michnik und des Ungarn György Konrad die verschiedenen Facetten des Mitteleuropabegriffs heraus. Demzufolge hat die mitteleuropäische Perspektive nichts mit „rechts“ oder „links“, sondern mit „Recht“ oder „Unrecht“ zu tun, sie nimmt ihren Ausgangspunkt nicht von Kollektiven sondern vom Einzelnen und seiner persönlichen Würde. Mitteleuropäer, so Timothy Garton Ash, „sind sozusagen die Europäer, die wirklich wissen warum es geht“. In der weiteren Analyse verbindet Timothy Garton Ash die Begriff Mitteleuropa mit zwei Elementen: der Gewaltlosigkeit der Zivilgesellschaft. Beide hingen in der konkreten historischen Situation der 1980er Jahre ursächlich zusammen, denn die Gewaltlosigkeit ergab sich notgedrungen aus der Übermacht der staatlichen Repressionsapparate, der gegenüber es galt, zuerst einen gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen. Im Grunde waren der polnische KOR oder die tschechische „Charter 77“ Gründungsurkunden einer oppositionellen Zivilgesellschaft, die sich im Schatten der Helsinki Akte entfalten konnte. Das wichtigste an diesem zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss war die gemeinschaftliche Selbstvergewisserung der Wahrheit und die Entlarvung der Lüge, denn, wie es Alexander Solschenizyn:  in seiner Nobelpreisrede sagte: „ist die kollektive Lüge erst enttarnt, dann bricht die Gewalt in sich zusammen“. Wahrscheinlich war dieses „Blaming“ der offiziellen Lügen in den Augen aller einer der Gründe dafür, dass die linken Machthaber im entscheidenden Augenblick ihre überlegenen Gewaltmittel nicht einsetzten.

Seitdem ist viel Wasser die Weichsel herabgeflossen, und die hochfliegenden Träume haben sich nur sehr unvollkommen erfüllt. Zweifellos hat sich der Lebensstandard der mitteleuropäische Länder in den letzten 30 Jahren gewaltig erhöht (im Unterschied etwa zum „Wilden Osten Europas“, also der Ukraine, Moldawien, Bulgarien oder Rumänien, die der Autor ganz eindeutig nicht zu Mitteleuropa zählt).Auf der anderen Seite haben diese Staaten auch die hässlichen Seiten der Demokratie kennen gelernt, wie man es derzeit in Polen studieren kann. erkennen kann. Innerhalb der Europäischen Union, in die die Polen, Ungarn, Tschechien, Ungarn und die baltischen Staaten eingetreten sind, hat der Begriff Mitteleuropa aber inzwischen eine neue, überraschende Bedeutung gewonnen. Er ist zu einem alternativen Ordnungsmodell geworden, das sich gegen den multikulturell vollkommen entgrenzten Gesellschaftsbegriff der Europäischen Union absetzt. Das Modell des christlich fundierten Nationalstaats, dessen Ziel die Wohlfahrt seiner Bürger und nicht die Rettung der Welt ist, hat unter der Chiffre „Mitteleuropa“ überlebt.

 

 

 

 

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