James: Washington Square

James Washington SquareDer Washington Square ist ein zauberhafter kleiner Park mitten in der Millionenstadt New York und mit seinem Atrium und dem Triumphbogen ein Zentrum des urbanen Studentenlebens. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Washington Square in New York allerdings nichts weiter als ein ländliches Refugium, in das sich die wohlhabenden Kreise der Stadt vor dem Trubel des Hafens zurückzogen, ein Ort der Stille und der Erbauung, in dem sich die familiären Dramen hinter gut verschlossenen Türen abspielten. Die Geschichte eines solchen Familiendramas ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen Dr. Austin Sloper und seine Tochter Catherine. Sr. Sloper ist ein angesehener und erfolgreicher Mediziner, der nach dem frühen Tod seiner geliebten Gattin mit der Tochter und seiner verwitweten Schwester Lavina Penniman in einem herrschaftlichen Haus am Washington Square residiert. Catherine ist ein reizloses, uninteressantes Geschöpf, aber auch gutherzig, gewissenhaft, sittsam und unüberbietbar in der Bewunderung für ihren stattlichen Vater. Das Drama beginnt, als sich eines Tages Morris Townsend, ein blendend aussehender junger Mann mit exzellenten Manieren und zweifelhaftem Werdegang um Catherine, die wohlhabende Erbin eines beträchtlichen Vermögens, bemüht. Während die sich andeutende Liebesgeschichte zwischen Catherine und Morris von Catherines Tante Lavina nach Kräften befeuert wird, ist Dr. Sloper von Anfang an skeptisch. Ohne Vorurteile gegen mittellose Bewerber, aber mit dem Scharfsinn eines erfahrenen Arztes begabt, unterzieht er den Bewerber einer eingehenden Analyse und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis. „Er ist nicht das, was ich unter einem Gentleman verstehe, er hat nicht dessen Wesen. Er versteht es hervorragend, sich einzuschmeicheln, aber im Grunde seines Wesens ist er vulgär.“ In dem sicheren Empfinden einen Mitgiftjäger vor sich zu haben, verweigert der Vater seine Einwilligung in die Verbindung. Das Drama ist da, und wie es Dramen so an sich haben, entfesseln sie in den Akteure ungeahnte Energien. Catherine widersetzt sich ihrem über alles bewunderten Vater, und obwohl ihr die Enterbung droht, verlobt sich mit Morris Townsend. Selbst eine zwölfmonatige Europareise an der Seite ihres Vaters kann sie nicht von ihrer Liebe zum schönen Morris abbringen. So weit so vorhersehbar. Noch vorhersehbarer erscheint die Reaktion des frisch verlobten Mitgiftjägers: Als deutlich wird, dass der Vater auf der Enterbung seiner Tochter beharren wird, trennt sich der junge Mann in ausnehmend hässlichen Formen von Catherine, die in ihre Ahnungslosigkeit aus allen Wolken fällt und in einem Ozean von Kummer versinkt.

Das besondere an dem Buch ist nicht diese etwas konventionelle und letztlich vorhersehbare Handlung, sondern die Art, wie sie erzählt wird. Henry James, der Begründer und Meister des psychologischen Romans, weiß seine Gestalten aus einem schier unerschöpflichen psychologischen Malkasten so anschaulich zu gestalten, dass der Leser sich schon nach kurzer Zeit im Sloperschen Haushalt so heimisch fühlt, dass er gar nicht anders kann, als echtes Interesse für die Protagonisten zu entwickeln. Mit beachtlichem Einfühlungsvermögen und großer sprachlicher Kraft enthüllt James die Tiefe der Sehnsucht, des Leids und der Verstellung, die auch und gerade hinter scheinbar belanglosen Wald- und Wiesengeschichten stecken. Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Bonsailiteraten, deren Figuren über die Konturen unscharf aufgenommener Portraitaufnahmen nicht hinauskommen, erscheint jede Figur im vorliegenden Roman wie ein überklar herausgearbeitetes Unikat. Besonders in der Gestalt von Morris Thompson ist Henry James eine zukunftsweisende Figur gelungen, die heute unter den veränderten Verhältnissen der libertären Gesellschaft als vagabundierender Womanizer eine geradezu bedrückende Aktualität besitzt. Auch wenn die allwissende Erzählhaltung und die gelegentliche Wendung des Autors direkt an den Leser dem heutigen Leseverständnis etwas widersprechen, ist die Lektüre nicht mehr und nicht weniger als ein literarischer Genuss und nach Werken wie „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ oder „Die schwangere Witwe“ geradezu eine Labsal.

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