Houellebecq: Unterwerfung

„Mein SchwanzHouellebecq Unterwerfung war im Grunde das einzige Organ, das sich mir nie durch Schmerzen bemerkbar gemacht hatte, sondern nur durch rauschhaften Genuss. Bescheiden, aber robust, hatte er mir stets treu gedient – das heißt: vielleicht war es sogar umgekehrt, und ich diente ihm – doch sein Regiment war ein sanftes: nie befahl er mir etwas, gelegentlich ermunterte er mich nur in aller Bescheidenheit ohne Groll und Wut ein geselligeres Leben zu führen.“ Der Protagonist, der sich in dieser Weise vorstellt, heißt Francois, ist 44 Jahre alt, Literaturwissenschaftler und leidet an seiner sozialen Atomisierung. Seine Mutter wird in einem Massengrab verscharrt, seinen Vater hat er seit 10 Jahren nicht mehr gesehen, natürlich ist er kinderlos und schläft mit jungen Frauen, die seine Töchter hätten sein können. Mit anderen Worten: Francois repräsentiert den Typ des postmodernen Singles, der sein Leben nach dem Motto lebt: Nach mir die Sintflut. Dass er sich seiner sozialen Zombieexistenz bewusst ist und in der Gestalt des Schriftstellers K. Husymanns einen Kulturkritiker verehrt, der dies sein Leben lang beklagte, treibt die Dekadenz nur auf ihre reflexive Spitze.

Francois erlebt im Jahre 2022 eine politische Umwälzung, bei der im zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen die Sozialisten, um den Sieg des Front National zu verhindern, den liberalen Moslem Mohammed Ben Abbes unterstützen und ihm damit zum Sieg verhelfen.

Sofort nach dem Amtsantritt des neuen moslemischen Präsidenten  vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen, die von der Mehrheit der Gesellschaft erstaunlich fatalistisch hingenommen werden. Zuerst werden von den neuen Machthabern die Subventionen für Familie mit Kindern in bisher unvorstellbarem Maße aufgestockt. Die weibliche Erwerbstätigkeit wird abgeschafft, was zu in einem krassen Rückgang der Arbeitslosenrate führt. Unter der Drohung der Sharia-Justiz geht die Kriminalität um 85 % zurück, und die zunehmende Verschleierung der Frauen in der Öffentlichkeit führt zum Ende der allgemeinen Durchsexualsierung des Alltags. Das allgemeinbildende Schulwesen endet im Alter von 12 Jahren, alle weitergehende Ausbildung muss privat finanziert werden. Polygamie ist selbstverständlich legal, Abtreibung und Prostitution sind verboten. Mit der freiwilligen Konversion des Literaturwissenschaftlers Francois endet das Buch.

Obwohl sich das Buch stark mit französischen Internas beschäftigt und auf der konkreten Handlungsebene nicht sonderlich viel geschieht, habe ich den Roman von der ersten bis zur letzten Seite mit Spannung gelesen. Im Unterschied zu anderen didaktischen Romantraktaten wie etwa Eggers „Der Circle“ ist das Buch in einer geschliffenen, gut lesbaren Sprache verfasst. Wie aber steht es um den inhaltlichen Plot? Was ist die Diagnose Houllebecqs und wie wahrscheinlich ist sie? Zunächst macht dreierlei für Houellebecq den Sieg des Islam wahrscheinlich:

(1) Der Überdruss des modernen Menschen an einer bindungslosen und leeren Freiheit (dargestellt an der deprimierenden Gestalt des Literaturwissenschaftlers Francois) und

(2) der Defaitismus der etablierten linken und bürgerlichen Parteien, die den Liberalismus preisgeben, um den Sieg der Rechten zu verhindern, und

(3) die Verlockungen eines liberalen Euroislams, der auf Samtpfoten daherkommt, um seine Ziele nur um so sicherer zu erreichen.

Auf diese Weise vollzieht sich der Sieg des Islam nicht die Folge eines Bürgerkrieges, in dem die Muslime über die Masse zähneknirschender Autochthoner siegen. sondern er vollzieht sich ungefähr so, wie ein reifer Apfel vom Baum fällt, als eine weitgehend fatalistische „Unterwerfung“ libertär verunstalteter Existenzen unter eine neue Ordnung. Und in dem vorliegenden Buch erscheint dieser Wandel fast verlockend: Der Sieg des Islams bedeutet zwar die Abschaffung der freiheitlichen Gesellschaft, aber mit der Familie, der öffentlichen Sicherheit und der Moral geht es aufwärts. Auf einen Schlag verschwinden die Drogenabhängigen von der Straße, und endlich kann man wieder abends ohne Angst mit der U Bahn fahren. Der Islam revitalisiert die französische Gesellschaft, die nach dem Zusammenbruch der modernen Familie dabei war, vollkommen auseinander zu brechen. Dass man als Mann auch noch mehrere Frauen heiraten darf, ist eine erfreuliche Zugabe, die den dekadenten Francois schließlich veranlasst, am Ende des Buches aus rein opportunistischen Gründen zum Islam zu konvertieren.

So ist das vorliegende Buch nicht in erster Linie eine Kampfschrift gegen den Islam sondern eine ätzende Kritik an der modernen libertären Gesellschaft, die den einzelnen derart vereinsamt und entkernt, dass ihm am Ende die „Unterwerfung“ unter eine neue, klare und lebensfähig Moral wie eine Erlösung erscheint. Damit hat der Autor zweifellos eine Tiefendimension der kulturellen Umbrüche sichtbar gemacht, die bislang überhaupt nicht thematisiert wurde.

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