Ludwig Marcuse: Mein Zwanzigstes jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie

Ludwig MarcuseZuerst ein Witz. Als Student habe ich mich immer gewundert, warum Herbert Marcuse manchmal mit seinem zweiten Vornamen als Ludwig zitiert wird. Es dauerte etwas, bis ich bemerkte, dass es sich um zwei Personen handelte und dass es durchaus möglich ist, den gleichen Nachnamen zu haben. sich aber in seinen Geisteshaltungen diametral voneinander zu unterscheiden. Ein größerer Gegensatz als der zwischen dem neonmarxistisch-freudianischen Betonkopf Herbert Marcuse und dem freien Geist Ludwig Marcuse ist kaum vorstellbar. Das merkte ich aber erst, als ich schon etwas älter war.

Die vorliegende Autobiographie von Ludwig Marcuse liest man ohnehin besser in fortgeschrittenem Alter, weil viele der Einsichten, die sie formuliert, dem juvenilen Tunnelblick stark wiederstreben werden. Gerade weil Ludwig Marcuse ein Mann des Maßes und des Abwägens war, weil er im Theater sowohl Ludwig Feuchtwanger wie Otto Strasser grüßte, hat er sein Leben lang zwischen allen Stühlen gesessen. Als einflussreicher liberaler jüdischer Theaterkritiker hat er 1933 bei der Machtergreifung der Nazis Deutschland verlassen müssen, als hofierter Staatsgast der totalitären Sowjetunion ließ er sich aber anders anders als Andre Gide und Heinrich Mann nicht so leicht blenden. Als Emigrant in Sanary sur Mer und in Kaliforniern beobachtete er die führenden Gestalten der Emigrantenkultur mit scharfem, unbestechlichem Blick. Und am Beispiel Brechts lernte er schnell etwas, was man den leisten Intellektuellen ins Stammbuch schreiben sollte. Gerade die, die ständig von der Moral palavern, mögen es gar nicht, sie am eignen Anspruch zu messen

Aber wenn die Ideologien, die rechtstotalitären wie die linkstotalitären, die Menschen, die ihnen folgen, notwendig deformieren – woran sollte man sich halten? Marcuse antwortet: an die Personen, an die Vorbilder, die ihre Prinzipien mit dem eigenen Leben beglaubigt. In dieser Hinsicht war Carl von Ossietzky, dem das Buch ein liebevolles Portrait widmet, für Ludwig Marcuse ein echtes Vorbild. Auf der anderen Seite gilt aber auch: „Nichts ist wichtiger als die Einsicht, wieviel Unfrieden von Pazifisten ausgehen kann“ (S.136). Und an einer anderen Stelle heißt es. „Friede, das ist vielleicht der stärkste Köder, mit dem ein Angreifer sein auserkorenes Opfer fangen kann.“(S.163) Was denn nun? Ossietzky oder der tätige Widerstand? Antwort: mal so, mal so, denn die Wahrheit chargiert, verbirgt sich tarnt sich mit ihrem Gegenteil und residiert auf keinen Fall immer auf der Seiten des Mainstreams. In dieser Hinsicht fand ich bemerkenswert, was Marcuse am Ende seines Buches über den „Mut“ schreibt. Luther war demnach in Worms gar nicht so mutig, denn über ihn hielten die mächtigen deutschen Fürsten schützend ihre Hand. Mutig ist dagegen nur der, der allein steht und seine Meinungen trotzdem artikuliert. „Unter liberalen Pazifisten hat man Mut, wenn man für Krieg nicht nur Generäle und Waffenfabrikanten verantwortlich macht“, schreibt Marcuse und: „Unter Marxisten hat man Mut, wenn man Dialektik nicht für göttlich hält.“ (S.387) Unter heutigen Bedingungen könnte man hinzufügen: Unter Zeitgeistprotestanten beweist der Pfarrer Mut, der im Zusammenhang mit der Islamdebatte daran erinnert, dass es für einen Christen nur über Jesus den Weg zur Erlösung gibt, denn er wird von seinen Kollegen mit einer Anzeige wegen –Volksverhetzung gemobbt.

Vielleicht ist die tastende Suche nach der Wahrhaftigkeit, an der Ludwig Marcuse den Leser über fast vierhundert Seiten teilhaben lässt, der kostbarste Ertrag des vorliegenden Buches. Dass es, wie immer bei Ludwig Marcuse, in einem geschliffenen Stil geschrieben ist, setzt diesem kleinen literarischen Juwel die Krone auf. Und das umfangreiche Personenregister am Ende des Buches macht „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ endgültig zu einer Kulturgeschiche der ganz besonderen Art.

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