Hirsch: Die Rache der Opfer

Hirsch Die Rache der OpferDie Angehörigen der 68er Generation, so schreibt die Autorin Helga Hirsch in der Einleitung des vorliegenden Buches, sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es sich bei dem millionenfachen Leid der Deutschen, die beim Ende des zweiten Weltkrieges ihr Heimat und ihr Leben verloren, um eine zwar bedauerliche, aber letztlich doch gerechte Rache der Geschichte an denjenigen gehandelt habe, die als Helfershelfer des NS-Regimes ein noch viel größeres Leid über die Völker Europas gebracht haben. Es dauerte dann einige Zeit, bis der Autorin klar wurde, dass diese glatt geschmirgelte Moralität, die SS-Schergen und KZ-Aufseher mit Millionen ganz normaler Familien aus Schlesien und Ostpreußen in einen einzigen Haftungstopf warf, selbst Ausweis einer kollektivistischen Verteufelungsgesinnung war, die die 68er doch gerade bekämpfen wollten.
Gegen diese gedankenlose Pseudomoralität, wendet sich die vorliegende historische Studie. Auf der Grundlage polnischer und deutscher Familienschicksale der ehemaligen deutschen Stadt Bromberg, (heute Bydgoszcz ) werden die einzelnen Stationen einer binationalen Trägodie so genau nachgezeichnet, dass am Ende die einfachen Kategorien von Schuld und Unschuld versagen. Denn wahr ist auch: der 1919 neu entstandene polnische Staat sprang mit seinen Minderheiten alles andere als zimperlich um, so dass es in der Zwischenkriegszeit sogar zu Wahlbündnissen der deutschen, ukrainischen und jüdischen(!) Minderheiten kam, um wenigstens eine minimale Interessenvertretung im polnischen Parlament zu etablieren. Viel konnte diese politische Interessenvertretung für die Minderheiten aber nicht ausrichten, wie das typische Beispiel der deutschen Familie Königk aus Bromberg zeigt. Der Vater, ein etablierter Agrarhändler, macht Bankrott, da sich die polnischen Schuldner weigern, ihre Schulden bei einem Deutschstämmigen zu bezahlen, während die polnischen Steuerbehörden sofort die volle Steuerlast fordern. Dergleichen Geschichten gibt es in dem Buch zu Hauf zu lesen, so dass man fast verstehen kann, mit welcher irregeführten Begeisterung die Volksdeutschen den Aufstieg des Dritten Reiches verfolgten.
Als dann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen ausbrach, ermordete der polnische Mob am berüchtigten Blutsonntag von Bromberg“ über 400 deutsche Zivilisten – für die Nazis ein willkommener Vorwand nach ihrem schnellen Sieg ihr alle Vorstellungen sprengendes antipolnisches Vernichtungsprogramm in die Tat umzusetzen. Alle Bewohner Polens sollten in das Generalgouvernement ausgewiesen werden, es sei denn, sie gehörten zu einer der drei berüchtigten Volkslisten“. Liste 1 umfasste die politisch aktiven Deutschen im ehemaligen Polen, während in Liste 2 die eindeutig Deutschstämmigen aufgenommen wurden. In die Liste 3 konnte sich bei Nachweis deutscher Ahnen jeder Pole eintragen lassen, der sich germanisieren“ lassen wollte. Es sind bittere Zahlen, die es hier auch für die Polen zu lesen gibt. Von den 100.000 Polen, die im Raum Bromberg berechtigt waren, einen solchen Antrag zur Aufnahme in die Liste 3 als Volksdeutscher zu stellen, weigerten sich nur ca. 5.000 Polen, 95 % beantragten die Aufnahme in den deutschen Volkskörper, aber nur 65.000 wurden auch genommen. Alle Polen außerhalb dieser drei Listen fielen unter die Oberhoheit des Generalgouvernements, das in den nächsten 5 Jahren zum Grab von sechs Millionen Polen (!) – über einem Fünftel des gesamten Volkes(!) – werden sollte.
Kein Wunder, dass nach diesem versuchten Ethnozid an der polnischen Nation gegen Kriegsende fast alle der 1,2 Millionen Deutschen im ehemaligen Polen vor der Rache der Sieger nach Westen zu fliehen versuchten. Nur 600.000 Volksdeuten gelang die Flucht, den Rest traf die Rache der Sieger: Tod, Enteignung, millionenfache Vergewaltigung in einer Orgie von entmenschter Gewalt, bei der die Russen nur den Anfang machten, denen sich aber die ehemaligen Opfervölker schnell beigesellten. Im Raum Bromberg, wurden nun die Deutschen in die ehemaligen SS-Lager interniert und zum Teil von ehemaligen Lagergefangenen bewacht. Unter diesen Wächtern waren Gleichgültige und Barmherzige, aber auch psychotische Schläger, die Nacht für Nacht durch das Lager gingen und Unschuldige und Sterbende zu Tode prügelten. Wie viel Tausende allein in diesen Lagern im Raum Bromberg starben, bleibt bis heute ein gut gehütetes Geheimnis der polnischen Behörden.
Kaum jemand wird diese historische Studie über die nationalen Verstrickungen von Hass, Leid und Terror ohne Ergriffenheit lesen können. Den Gutmenschen, die historische Detailuntersuchung solcher Art immer nur als Relativierung deutscher Schuld verdammen, wird die Lektüre sicher wenig schmecken. Für diejenigen aber, die an den Verbrechen des Dritten Reiches nichts beschönigen wollen, aber auf die Individualität der Taten und der Schuld bestehen wollen, ist das vorliegende Buch ein weiterer notwendiger Schritt zur Rekonstruktion der ganzen historischen Wahrheit, dem noch viele andere Schritte ( etwa für die Beines-Dekrete in der ehemaligen CSSR ) folgen müssen.

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