Paul: Das Feldlager. Jugend zwischen Langemarck und Stalingrad

Paul Das FeldlagerWer heute selbst in Gymnasialklassen erleben muss, dass viele Mädchen unter Essstörungen leiden und die Jungen Tabletten zur chemischen Dämpfung ihrer Zappeligkeit einnehmen müssen, dem kann es um die heranwachsende Jugend in der Wohlstandsgesellschaft des 21. Jahrhunderts angst und bange werden. Wie konnte es soweit kommen, möchte man mit dem Autor Wolfgang Paul fragen, vor allem, weil es im letzten Jahrhundert immer wieder Ansätze zur Entwicklung eines jugendgemäßen Lebens gegeben hat. Jugendgemäßes Leben – das heißt für Wolfgang Paul Naturerleben, Kameradschaft, Pflichtgefühl, Herausforderung und Bewährung im Kreis der Gleichen, also ein autokepaler Raum der Selbstbildung der nächsten Generation.
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Pauls Buch „Das Feldlager. Jugend zwischen Langemarck und Stalingrad“ beschreibt die verschiedenen Versuche, solche Räume in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jhdts. zu etablieren. Was für ein Aufbruch, als die europäische Jugend im Zuge der Wandervogelbewegung auf Fahrt“ ging – nicht auf Hashtour nach Katmandu sondern mit der Klampfe nach Lappland, in die Karpaten oder die Alpentäler, als sie das Feuer in den „Kohten“ entzündete ( wer kennt heute noch diesen Begriff? ) und unter ihresgleichen am Lagerfeuer (ohne Alkohol) die Nächte durchdiskutierte.
Was wurde daraus? Ein Grossteil dieser Wandervogeljugend, die sich vor dem ersten Weltkrieg auf großer Fahrt“ auch im internationalen Rahmen traf, verblutete auf beiden Seiten der Front in den Schlachten von Ypern und Verdun.
Aus den Resten der Wandervogelbewegung entstand in der Weimarer Zeit die bündische Jugend, ein vielfältig ausdifferenziertes Netz völkischer, liberaler, auch sozialistischer und kommunistischer Jugendgruppen, die es allerdings niemals wirklich zu einer inneren Einheit brachten. So fielen sie nach 1933 nach nur ansatzweise Widerstand der Gleichschaltungspolitik der Nazis anheim. Die linken Funktionäre wurden verhaftet, teilweise ermordet, die bürgerlichen und rechten Verbände verschwanden in den Sturmbannabteilungen Baldur von Schirachs. Dort erhielten sie ihre paramilitärische Ausbildung im „Feldlager“ und starben als Hitlers willigste Soldaten vor Stalingrad und Kursk.
Es ist eine deprimierende Geschichte der Jugend, die der Autor auf über vierhundert eng beschriebenen Seiten entfaltet. Auch wenn das Buch stellenweise durch die immense Anhäufung von Details und Einzelschicksalen nicht immer ganz einfach zu lesen ist, ergibt sich am Ende ein klares Resümee: die Jugend, die seit der Wandervogelbewegung immer wieder Subjekt, d. hl. Beweger erstarrter Zustände, sein wollte, war doch immer nur Objekt – Objekt von Ideologen, Schwarmgeistern und Fanantikern, die ihre Hingabebereitschaft ausnutzten, um sie für ihre Ziele zu instrumentieren.
Am Ende der Lektüre fragt man sich natürlich, wie sich die Jugendbewegung der 68er Jahre in diesem Kontext einordnet. Sie war in ihrer sexuellen Freizügigkeit, ihrem Rauschgiftkonsum und ihrer moralischen Überheblichkeit zwar das genau das Gegenteil der Wandervogelbewegung, doch auch sie folgten keinen eigenen Gedanken sondern nur den Einblasungen skurriler Großväter und Großmütter wie Wilhelm Reich, Herbert Marcuse oder Margret Mead. So erleben wir heute anstelle einer militarisierten Jugend eine ess- und verhaltesgestörte junge Handy-Generation mit elitärem Konsumverhalten und proletarischen Manieren. Ein Forschritt ist das nicht, und schrecklich ist beides.

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