Sachslehner: Schicksalsorte Österreichs

Sachslehner Österreich„Nicht jeder Deutsche ist ein Österreicher, aber jeder Österreicher ist ein Deutscher“, tönten die Nationalliberalen in der 1848er Revolution. Das ist lange her, und heute ist Österreich längst ein eigener Staat – aber ist es auch eine eigene Nation“?
Johannes Sachslehner, der diese Frage in der Einleitung zu dem vorliegenden Buch aufwirft, will diese Frage nicht ad hoc beantworten, macht aber einen interessanten Vorschlag zu ihrer Neudefinition. Nation, so Sachslehner in Anlehnung an französischen Soziologen Maurice Halbwachs, besitzt immer auch eine topologische Dimension, d.h. sie ist als Hort gemeinsamer Erinnerungen immer auch an bestimmte Orte gebunden. Das Thema des Buches, die Suche nach solchen Schicksalsorten Österreichs“, ist somit auch ein Beitrag zur Selbstvergewisserung der so genannten österreichischen Staatsnation.
Der Leser kann also mit dem Buch in der Hand durch Zeit und Raum der österreichischen Geschichte reisen, und was er dabei erfährt, ist kurzweilig und informativ – aber keineswegs immer erfreulich Der Autor widersteht jeder Tendenz zur retrospektiven Heroisierung , d. h. Erhabenes und Tragisches, Heldentum und Schuld sind wie in der Geschichte aller Völker gut durchmischt. Die Auswahl der Orte ist eigenwillig, verbindet aber auf recht gelungene Weise Weltgeschichte und lokale Historie, eine Kombination, die für sich betrachtet geradezu ein Erkennungszeichen der österreichischen Geschichte darstellen dürfte.
Die historische Reise beginnt nach einer kurzen Einleitung, die die Ursprünge Österreichs am Ende des 10. Jhdts. mit der berühmten Haft des englischen Königs Richard Löwenherz auf Burg DÜRNSTEIN in der Wachau(1191) und setzt sich fort mit dem Drama der Schlacht von DÜNKRUT und dem Untergang Ottokars von Böhmen (1278). Es folgen zwei Schicksalsorte, deren Erinnerung eher beschämt, nämlich der „Ketzerfriedhof von STEYR“, wo ein durchgeknaller Inquisitor im Jahre 1397 Hunderte von Waldenser verbrennen ließ und der JUDENPLATZ von Wien, in dessen Umkreis die 1420/1 die Wiener Judengemeinde in einem schrecklichen Pogrom unterging. Fünfter Schicksalsort ist natürlich der STEPHANSDOM, in dem 1515 Erzherzog Ferdinand die ungarische Königstochter Maria ehelichte, womit der Grundstein für die schicksalhafte Verbindung Österreichs und Ungarns gelegt wurde. Ein kurioses aber weltberühmtes Detail aus dem Dreißigjährigen Krieg behandelt das Frankberger Würfelspiel von 1621, wo Todgeweihte in HAUSHAMERFELD um ihr Leben würfeln mussten. Allein drei Beiträge (MOGERSDORF, PERCHTOLDSDORF und KAHLENBERG) sind dem Kampf der Habsburger gegen die Türken im 17. Jhdt. gewidmet. Auch der Spanische Erbfolgekrieg, in dem Österreich entgültig zur Großmacht aufstieg, ist gleich mir zwei Geschichten vertreten: dem Kampf der Tiroler an der PONTZLACHER BRÜCKE 1703 und dem Kuruzzenüberfall in ZISTERDORF 1706. Einer der interessantesten Beiträge des Buches beschäftigt sich am Beispiel SCHWARZACHS mit der Austreibung der Protestanten aus dem Erzbistum Salzburg im Jahre 1731, ein erzwungener Exodus, der das Salzkammergut demographisch und kulturell schwer schädigte und keinen anderen Effekt hatte, als das Aufnehmerland, den späteren Rivalen Preußen, zu stärken. Maria Theresia ist erstaunlicherweise mit keinem Schicksalsort vertreten, stattdessen springt der transhistorische Express gleich weiter zu den napoleonischen Kriegen und erinnert an den Aufstand Andreas Hofers in BAD ISEL (1809) und im längsten Beitrag des Buches an den Sieg der Österreicher in der Schlacht von ASPERN (ebenfalls 1809). Der Wiener Kongress, die Revolution von 1848, der Sturz Metternichs, die Rückeroberung der Stadt durch Windischgrätz sind in dem Buch nicht vertreten, stattdessen setzt das Buch erst fast ein Jahrhundert später mit gleich zwei Orten wieder ein – mit HAINFELD, wo 1889 die Sozialdemokratische Partei Österreichs gegründet wurde und führt anschließend nach MAYERLING, wo im gleichen Jahr der Thronfolger Erzherzog Rudolf mit seiner Geliebten in den Freitod ging. Ein letzter Blick auf die todgeweihte Monarchie bietet der Ausflug nach BAD ISCHL. wo Kaiser Franz Josef im Juli 1914 das verhängnisvolle Ultimatum an Serbien unterzeichnete. Mit der Flucht Kaiser Karls I aus SCHÖNBRUNN endete nur vier Jahre später die über sechshundertjährige Herrschaft der Habsburger in Österreich.
Am Beispiel von SCHATTENDORF (1927) und LEOBEN (1934) werden die bürgerkriegsähnlichen Wirren in der ersten österreichischen Republik eindringlich vorgeführt – da rückt bereits die deutsche Reichswehr 1938 in Österreich, ein und Hitler verkündet auf dem HELDENPLATZ VON WIEN den sogenannten Eintritt seiner Heimat in der Deutsche Reich. Damit betritt der Autor eine durchaus heikle Epoche des österreichischen Selbstverständnisses, denn von einem entschlossenen Widerstand der Österreicher gegen ihren Eintritt ins III. Reich ist historisch wenig bekannt. Österreich „verschwindet“ gleichsam im Großdeutschen Reich und wird ebenso wie alle andere Territorien in die Todesmaschinerie des Nationalsozialismus eingespannt. Der Wiener ASPANGBAHNHOF, von dem die Deportationen in die Todeslager fuhren, das KZ MAUTHAUSEN Schloss RECHNITZ, wo sich in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges ein abscheuliches Massaker ereignete, gehören leider auch zur österreichischen Geschichte. Mit dem Staatsvertrag im BELVEDERE von 1955 und der Brücke von ANDAU, über die die Ungarnflüchtlinge 1956 in den Westen flohen, endet das Buch.
Wie man sieht, eine stolze Reihe von Schicksalsorten, die ganz unterschiedliche Schlaglichter auf Österreich werfen. Aber keine Angst, die einzelnen Geschichten sind jede für sich anschaulich, oft sogar mitreißend erzählt, und wer Freude an einer edlen Aufmachung von Druck und Bild hat, kommt bei dem vorliegenden Buch voll auf seine Kosten Ein ideales Geschenk für alle Freunde Österreichs, zugleich auch als Einleitung in den Werdegang unseres alpenländischen Nachbars zu lesen, von dem wir aber am Ende immer noch nicht wissen, ob er nun eine Nation repräsentiert oder nicht.
Wenn man an dem gelungenen und lesenswerten Werk überhaupt Kritik üben wollte, dann könnte man allenfalls fragen, warum auf die Darstellung eines geradezu weltgeschichtlichen Schicksalsortes aus dem Jahre 1989 verzichtet wurde, als an der ungarisch-österreichischen Grenze zwischen Eisenstadt und Sopron der eiserne Vorhang fiel. Aber das kann ja in der zweiten Auflage nachgeholt werden.

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