Margret Atwoods Buch „alias Grace“ bezieht sich auf die Kinnock-Montgommery Morde in einem Vorort von Toronto im des Jahre 1843, die damals internationales Aufsehen erregten, weil in diesem Verbrechen soziale Gegensätze, Schönheit und Sexualität eine Mischung eingingen, die das Publikum von Anfang an faszinierte. Am Schicksal der blutjungen und bildschönen Grace Marks, die als Mörderin zum Tode verurteilt und erst im letzten Augenblick zur lebenslanger Haftstraffe begnadigt wurde, schieden sich in Kanada jahrzehntelang die Geister, ehe Grade Marks nach 28jähriger Gefängnisstrafe 1872 begnadigt wurde und ihren Lebensabend in den vereinigten Staaten verleben konnte. Sie ist die Hauptfigur des Buches, und wie es der der Autorin gelingt, ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft und ihre ganze Epoche zum Leben zu erwecken, ist ein Leseerlebnis. Im Zuge einer raffiniert komponierten Erzählstruktur werden immer neuen Teile des Mordfalles zusammengefügt, ohne dass bis zum Ende ersichtlich würde, ob Grace Marks nun eine Mörderin ist oder nicht. Der weiblichen Hauptperson steht der ehrgeizige, aber recht wirre Wissenschaftlers Dr. Jordan gegenüber, der die inzwischen einsitzende Grace untersuchen soll. In seiner Figur, der unverkennbar Züge des jungen Freud beigemischt sind, wird die ganze Unschärfe und Vagheit der psychologischen Diagnostik deutlich, deren einzige Basis und Leitlinie nur das ist, was man ohnehin glaubt. Doch ganz gleich, ob die Autorin Grace Marks oder Dr. Jordan, den trinksüchtigen Vater, einen Jahrmarktgaukler, die böse Nancy Montgomery oder den liberalen Kinnock porträtiert – immer halten sich Anschaulichkeit und Präzision in der Beschreibung der Figuren mit einer vornehmen Zurückhaltung in der Bewertung die Waage. Alles in allem ein packendes Leseerlebnis von der ersten bis zur letzten Seite. Meine Lieblingsstelle: Die Stellungnahme des Gefängnisdirektors Dr. Bannerling zu Charakter und Person der Tatverdächtigen, die man allen allzugutgläubigen Gutachtern in das Stammbuch schreiben sollte ( S. 576-578 )