Enquist: Der Besuch des Leibarztes

51pQnwDBtbL._SX324_BO1,204,203,200_Das Buch spielt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im  Königreich Dänemark. Christian VII, eine nervenkranker, aber empfindsamer Monarch, erlaubt, dass seinem Leibarzt, dem Altonaer Arzt G.F. Struensee, als erstem Minister die rückständigen Gesellschaftsstrukturen des heruntergekommenen Königreiches zu reformieren. Da der erste Minister zugleich ein Verhältnis mit der vernachlässigten jungen Königin beginnt, macht er sich angreifbar, so dass seine mächtigen reaktionären Gegner eine Gegenrevolution planen…

Soweit der Plot des vorliegenden Buches, der sich weitgehend auf die realen historischen Fakten der sogenannten dänischen „Struenseezeit“ (1768-1772) bezieht. Aus diesem Material hat Per Olof Enquist einen Roman geformt, der nicht nur sehr gut unterhalt, weit über das rein historische Sujet hinausgeht sondern auch noch literarischen Maßstäben genügt. Eine raffinierte erzähltechnische Entfaltung der Handlung, eine Reihe analytisch und feinfühlig geschilderter Charaktere, die konsequente Vermeidung von Schwarz-Weiß-Malerei und die Ausleuchtung der großen historischen Bühne machen das vorliegende Buch zu einem Gesellschaftsroman der späten Aufklärung, wie ich bisher wenige gelesen habe. Und das in einer Sprache, die ihrem Gegenstand voll entspricht: anschaulich, innovativ, tastend und suchend, als versinnbliche sie selbst als Form die inhaltliche Frage, die der Roman als Ganzes aufwirft. Es ist die Frage nach der Perfektibilität des Menschen und seiner Fähigkeit, die Welt und die Gesellschaft als eigener Kraft und Einsicht heraus zu verbessern. Von den Feinden der Aufklärung wird ein eindringliches, ein finsteres Bild gezeichnet, es sind weniger die raffgierigen und debilen Idioten des dänischen Hofes sondern Figuren wie der Hofrat Guldberg, der alttestamentarischen Rachephantasien wie dem „Keltermeister“ des Jesaja folgt. Aber auch das durchaus zerfurchte Gesicht der Aufklärung wird deutlich: es ist nicht reine Menschen, die das edle Licht der Vernunft entzünden wollen, diese Menschen sind mitunter wie der unselige Graf Rantzau recht charakterlose Figuren. Und was die Guten und Reinen betrifft, wird die Frage aufgeworfen: „Warum werden immer die falschen Menschen auserwählt, das Gute zu tun?“ Die Antwort, die die gefangene Königin am Ende des Romans gibt, gibt, lautet: „Es musste der Teufel ein, der die Guten auswählte“ – eben, weil sie als Gute und Gewaltlose wie Struensee sich gegen das Schlechte auf Dauer niemals behaupten können. Und wer sollte von den 362 Reformdekreten des guten Arztes aus Altona eigentlich profitieren? Das tumbe Volk, das die Reformen  begeistert begrüßt, weil es in den geöffneten Schlossgärten nun nach Herzenslust im Unterholz vögeln darf, aber dann feige zusieht, wie Struensee hingerichtet wird. Fragen über Fragen. Und lauter Denkanstöße ohne bündige Antworten – genauso, wie es bei  einem guter Roman auch sein soll.

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