Flaubert: Lehrjahre des Gefühls

008

Man hat Rousseaus „Nouvelle Heloise“ den repräsentativen Roman des 18. Jahrhunderts genannt. Wenn es einen repräsentativen Roman des 19. Jahrhunderts geben könnte, dann wäre Flauberts „Lehrjahre des Gefühls“ einer der aussichtsreichsten Kandidaten. Von 1840, der Zeit des betulichen Bürgerkönigs Louis Philippe, bis 1852, zur Machtergreifung Napoleons III, reicht das gewaltige Zeit- und Gesellschaftspanorama, mit dem es Flaubert gelingt, eine ganze Epoche in einem Buch zur Anschauung zu bringen. Schön und gut.  Aber was hat diese Zeit uns denn heute noch zu sagen? Sind die Irrungen und Revolutionen, die Konflikt und Krisen dieser Jahrzehnte nicht längst der Schnee von gestern? Mitnichten! Flauberts Roman ist   ein geniales prophetisches  Werk,   geschrieben genau in dem Moment,  in dem eine neue Welt, die nunmehr die unsere ist, die Tribüne der Geschichte betritt, um sogleich in nuce  alle Probleme, die die Menschen der Gegenwart malträtieren, aufzuwerfen.  Liebe ohne Charakter, Gewinnsucht ohne Verantwortung, Politik nur zum eigenen Nutzen,  all diese Signata der Moderne  triumphieren im Paris der Vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, ihre Erscheinungsweisen, Verwerfungen und Folgen werden wie auf einer Schaubühne für die Zukunft bis ins kleinste durchexerziert und demonstriert. Und das, ohne dass das Buch auf einer einzigen Seite langweilig wäre! Flauberts Epochenroman ist nicht nur eine zeitdiagnostisch-prohetische sondern auch eine literarische Großtat, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.

1 (304)
Flauberts Papagei in Rouen

Worum geht es? Frederic Moreau, der junge unbedarfte, aber absolut antriebsschwache  Sohn einer leidlich vermögenden Witwe kommt nach Paris um die Rechte zu studieren. Doch „das Glück, aus fas er ein Anrecht zu haben glaubte“ (S.8), will sich nicht einstellen. Er verliebt sich in die verheiratete Frau Arneoux, verehrt sie scheu und aus der Ferne  und vertändelt mit dem sympathischen aber lotterhaften Ehemann die Nächte beim Zechen. Seine Tage verbringt er im Schnittpunkt zweier Kreise, die man sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann, die aber in ihrer Gesamtheit die ganze Breite der französischen Gesellschaft repräsentieren. Auf der einen Seite sind da Deslauriers, der Jugendfreund und Advokat, der an Willen besitzt, was Frederic mangelt, doch an der Gier seines Ehrgeizes scheitert, der diletierende Maler Pellerin, der politische Nörgler Regimbart, dessen Tagesablauf sich nach denen der Bistros strukturiert, in denen er sich volllaufen lässt, der prinzipienlose Journalist Hussonnet und vor allem der widerwärtige Senecal, der wie ein Vorschein des totalitären Typs späterer Generationen erscheint. Durch das Geld seiner Mutter und eines Erbonkels besitzt Frederic aber auch Zugang zu den konservativ-großbürgerlichen und aristokratischen  Salons um den Kaufmann Dambreuse, einen mit allen Wassern gewaschenen Bourgeoise, der kein anderes Ziel kennt, als seinen Reichtum zu mehren. Im Schnittpunkt dieser beiden Kreise verplempert Frederic sein Leben, vergeudet alle seine Chancen bei der tugendhaften Madame Arnoux und  hält sich stattdessen schadlos an der plebejisch-sinnlichen Kurtisane Rosanette ( nicht ohne zu verkennen, dass diese surrogative Aktion einem Selbstmord gleicht) und schickt sich schließlich an, nach dem Tod des Kaufmanns Dambreuse seine ältliche und vollkommen reizlose Witwe zu heiraten. Aber alles geht schief – Madame Arnoux bleibt tugendhaft, der Kurtisane ist er bald über, und die ältliche Witwe vermag auf Dauer seine Sinne nicht zu reizen. Derweil bricht im Jahre 1848 die Februarrevolution aus, alle privaten Angelegenheiten treten zurück hinter dem Wunsch, in einem einzigen Aufwasch, sich selbst, sein Gemüt, seine finanziellen Probleme, die Gesellschaft und die ganze Welt zu beglücken. Wie Flaubert diese hitzigen Monate beschrieben hat, wie er den Leser durch die republikanischen und konservativen Clubs führt und dabei das ganze Arsenal der öffentlichen Gier, verbrämt im Gewand der revolutionären Beglückung, durchdekliniert, besitzt in der Literatur nicht seinesgleichen. „Ich kann nicht anders, ich habe zu viel Gemüt“ (S. 252) jammert stellvertretend für die Gesamtheit der eine Nebenfiguren, als sie sich anschickt, sich der Raserei der Massen anzuschließen.

Doch die Revolution scheitert, General Cavaignac verhindert ein neues 1793, und am Ende steht der Sieg des Louis Napoleons, der im Buch zwar nicht erwähnt wird, aber als der repräsentative Pharao der neuen bürgerlichen Epoche allgegenwärtig ist. Nachdem Frederic fast sein ganzes Vermögen verschleudert hat, nachdem Frau Arnoux mit ihrem verarmten Mann Paris verlassen,  die Kurtisane Rosanette von der Fahne gesprungen und die Hochzeit mit Madame Dambreuse geplatzt ist, reist er in die Provinz um dort wenigstens an der Seite der unscheinbaren Louise Roque die Wonnen der Gewöhnlichkeit zu erleben. Doch  der falsche Freund Deslauriers hat die ewig wartende Louise inzwischen heimgeführt, so dass der phlegmatische Frederic wieder nach Paris zurückkehrt, wo er in den Jahren, die ihm noch bleiben, endgültig resigniert und sein Leben zwischen Reisen und Liebesgetändel verbringt.  „Er erlebte die Melancholie der Ozeandampfer, die frostkalten Stunden des Erwachsens der vom Zelt, die image027Betäubung vor Landschaften und Ruinen, die Bitterkeit von Neigungen, die schneller Abschied zerriss.“(307). Wer würde sich da nicht wieder erkennen? Liebschaften kommen und gehen, die Jahre verstreichen, und als ihn  fast eine Generation später die schon halb ergraute Madame Arnoux im Jahre 1867 besucht, um sich ihm endlich hinzugeben, spürte der ebenfalls alt gewordene Frederic ein Widerstreben, „etwas wie Grauen vor der Blutschande“ und eine Furcht „vor dem Ekel nachher“. Flaubert versagt sich am Ende seines Werkes jene prekäre Szene, den  Garcia Marquez dem Leser in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ auftischt, als er seine gealterten Liebenden an der Grenze des Grabes sich doch noch vereinigen lässt. Dass Frederic auf den körperlichen Vollzug einer schal gewordenen und längst übergegangenen Liebe verzichtet,  um sein Idealbild nicht zu verlieren, gehört zu den wenigen verinnerlichten Lektionen, die ihm seine „Lehrjahre des Gefühls“ vermittelt haben.  Am Ende schlägt man das Buch zu und ist wie betäubt von der literarischen Vollkommenheit dieses Werkes, in dem der Sieg der Trivialität über Kunst, Liebe, Politik so eindrucksvoll beschrieben wird, dass man darin fast schon wieder einen Hoffnungsschimmer sehen möchte.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Kommentar verfassen