Guterson: Schnee, der auf Zedern fällt

9783455403794Zwischen Seattle und Vancouver befindet sich der Puget Sound mit einer Vielzahl kleiner und mittelgroßer, wunderlich geformter Inseln, auf dem die Menschen vom Tourismus, der Fischerei und dem Erdbeeranbau leben. Eine dieser Inseln im Puget Sound zwischen ist die Heimat des Schriftstellers David Guterson, und auf einer dieser Inseln spielt auch das vorliegende  Buch.

Vordergründig geht es um den rätselhaften Tod eines Fischers, in Wahrheit um ein halbes Jahrhundert amerikanischer Geschichte und um einen Rückblick auf den Umgang Amerikas mit seinen Minderheiten. Erschienen in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, spielt die Romanhandlung im Jahre 1954, als die furchtbaren Kämpfe der Amerikaner und Japaner im Pazifik  noch unvergessen waren. Noch gibt es keinen Tourismus auf den Inseln des Puget Sounds, und die Menschen müssen sich mit harter Arbeit als Fischer oder Erdbeerfarmer über Wasser halten. Das ist der Stand der Dinge, als eines Nachmittags  der allseits geachtete Fischer Carl Heine tot auf seinem Boot gefunden wird.  Sein Jugendfreund Kabuto Myamoto, ebenfalls ein Fischer und durch verschiedene Indizien belastet,  wird unter Mordverdacht verhaftet. Sofort bricht der mühsam übertünchte Riss zwischen der japanischstämmigen Gemeinde San Piedros und den autochthonen  Amerikanern wieder auf, Chauvinismus, Vorurteile und Vorbehalte kommen wieder ans Tageslicht, denn die Opfer des zweiten Weltkriegs sind unvergessen.

Der Hauptstrang der sich nun entfaltenden Handlung wird als Gerichtsverfahren geschildert, unterbrochen durch lange historisch-biographische Exkurse, die nach und nach ein ganz anderes Beziehungsgeflecht zutage fördern, als es am Anfang den Anschein hatte. Bald wird klar, dass eine alte Familienfeindschaft die Heines und Myamotos trennt, was Kaburo Myamoto nur noch mehr belastet. Aber nicht nur das. Kaburo Myamotos Frau Hatsue verbindet eine unvollendete und   unabgeschlossene Jugendliebe mit dem Inseljournalisten Ishmael Chandler, dem bei der Recherche über die Ursachen des rätselhaften Todes  eine Schlüsselrolle zukommt.  Jenseits der psychologischen Verwerfungen, die mit großem Scharfblick und sprachlicher Meisterschaft dargestellt werden, rückt immer wieder ein besonders unrühmliches Kapitel der amerikanischen Geschichte in den Mittelpunkt, das in unseren Breitengraden kaum  bekannt ist: die Diskriminierung der amerikanischstämmigen Japaner im Zweiten Weltkrieg, die als Bevölkerungsgruppe nach dem Überfall auf Pearl Harbour bei Nacht und Nebel interniert wurden und die größtenteils ihre wirtschaftliche Existenzgrundlagen verloren.

So vergeht die Zeit, Zeugen der Anklage und der Verteidigung werden gehört, der herbstliche Schneesturm wird stärker,  die Rückblicke aufschlussreicher, doch auch nach über 400  Seiten bleibt der Tod des Fischers ungeklärt.  Wie ein Meisterregisseur versteht es Guterson, den Ablauf seiner Geschichte so zu nuancieren, dass sich erst kurz vor Ende des Buches der Vorhang hebt und eine  überraschende Lösung erkennbar wird. Ein spannendes Buch und ein poetisches dazu, eine wunderbare Leseerfahrung, wie ich sie lange nicht mehr hatte.

 

Kommentar verfassen