Mantel: Falken

Mantel FalkenDass Literatur und Kunst mit der Geschichte nicht identisch sind, ist eine Binsenweisheit. Ihre Relationen zueinander sind aber durchaus unterschiedlich. Manchmal sinkt die Kunst zur reinen Apologie herab, dann verwandelt sie sich in Propaganda. Manchmal variiert sie aber auch nur  Wirklichkeit, dann erleuchtet unbekannte Nischen, von denen man nichts Sichereres weiß und erweitert den auf diese Weise den Bereich der geistigen Welt. Manchmal aber stellen der Erfolg von Literatur und Kunst aber auch die Sachverhalte auf den Kopf, was dazu führt, dass dem geschichtlichen Kollektivbewusstsein eine völlig unwahre Erinnerung implantiert wird. So geschehen etwa in der  Geschichte der „Meuterei auf der Bounty“ bei dessen literarischer Bearbeitung von  Nordhoff/Hall und der anschließenden Hollywoodproduktion, die aus dem Lumpen Fletcher Christan ein Held und aus dem guten Kapitän Bligh ein Monster wurde.

Daran habe ich denken müssen, als ich „Falken“, den zweiten Band von Hilary Mantels Thomas Cromwell-Saga las. Ich gestehe, dass mich der erste Band „Wölfe“ mit seinen 700 Seiten fast erschöpfte ( siehe Rezension ebendort), das vorliegende Buch aber hat mich aber sofort in seinen Bann geschlagen. Die atmosphärische Dichte, sprachliche Meisterschaft, die formale Komposition und die geschickte Komposition des Spannungsbogens zeigen Hilary Mantel auf der Höhe ihres Könnens.  Im Mittelpunkt der Handlung seht wieder Thomas Cromwell, der Umwandler Englands in der ersten Hälfte des 16, Jahrhunderts, der in der Geschichtsschreibung ( und auch in der Fernsehserie „Die Tudors“) als Bluthund daherkommt, bei Hilary Mantel aber als umsichtiger und zielstrebiger Staatsmann erscheint, der sich um die Entwicklung Englands verdient macht.

Der Roman beginnt im Herbst 1535 unmittelbar nach dem Tod von Thomas More und endet Ende 1536 mit der Hinrichtung Anna Boylens nach einem fingierten Ehebruchs- und Hochverratsprozess. Im gefährlichen Wechselspiel höfischer Intrigen, religiöser Ketzereien und politischer Ambitionen erledigt Thomas Cromwell die Tagesgeschäfte ebenso wie die Aufträge des Königs und weiß dabei sehr genau um die Gefahren, die seine Stellung mit sich bringt. „Augen, die ihn einst aufgespießt haben, werben heute mit gespielter Achtung. Hände, die ihm den Hut vom Kopf schlagen möchten, strecken sich ihm entgegen. Er hat seine Feinde in seine Richtung gedreht, damit sie ihn ansehen, sich ihm anschließen, wie in einem Tanz: Er hat vor, sie wieder wegzudrehen, damit sie sie lange, kalte Schneise ihrer Jahre hinunterblicken, damit sie den Wind spüren, den Wind ungeschützter Orte, der einem bis auf die Knochen schneidet, damit sie sich in Ruinen betten und  frierend erwachen.“ (S.407/8). Als echter Machiavellist vermeidet Cromwell bei der hochnotpeinlichen Untersuchung unnötige Grausamkeiten (so rettet er den Dichter Thomas Wyatt vor dem Schafott), schreckt vor ihnen aber auch nicht zurück, wenn es die Umstände erfordern. „Wenn es mit Verhandlungen und Kompromissen nicht mehr geht, wenn die Vernichtung des Feiens einmal beschlossen ist, muss die Vernichtung schnell und vollkommen erfolgen. Noch bevor du den Blick in seine Richtung wirfst, sollte sein Name auf einem Haftbefehl stehen, sollten die Häfen geschlossen sein, seine Frau und seine Freunde gekauft, sollte sein Erbe unter deinem Schutz stehen, sein Geld in deiner Schatulle lagern und sein Hund auf dein Pfeilen hören. Noch bevor er am nächsten Morgen erwacht, solltest du die Axt in der Hand halten.“   Seine Antagonisten sind die testosterongesteuerten Adligen des Hofes, lauter türkische Kanonen“ („Die Explosion ist furchterregend, nur braucht es drei Stunden zum Abkühlen.“S. 78). Als Exponenten uralter Familien verachten sie Cromwell als Emporkömmling und taumeln blind in ihr Verderben. „Du greifst nach der Klinge, aber das Blut ist bereits vergossen“, denkt Cromwell, als er die verdächtigen Adeligen verhört. „Die Lämmer haben sich selbst geschlachtet und   gefressen- sie haben Messer mit zu Tisch gebracht, haben sich selbst zerlegt und die eigenen Knochen abgenagt.“(S.396) Derart eindringlich wird die Perspektive Thomas Cromwells entfaltet, dass der Leser nach den Verhören, die Cromwell mit den vermeintlichen Ehebrechern durchführt, fast selbst daran glaubt, die Königin wäre eine Ehebrecherin ( was sie natürlich nicht war).  Man muss von Hilary Mantel schlicht den Hut ziehen, denn noch bevor dem Leser am Ende auffällt, dass er der Autorin auf den Leim gegangen ist, ergeht sich ihr Protagonist Cromwell scheinbar beiläufig über den Zusammenhang von Kunst und Täuschung, Wahrheit und Nutzen,

Mir der Hinrichtung Anna Boylens endet der Roman. Thomas Cromwell befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht, hat aber, wieder Kundige weiß, nur noch vier Jahre zu eben. Stoff genug für einen drittes Meisterwerk, der Cromwells Strutz und Tod beschreiben müsste, und an dem die Autorin, wie man hört, auch schon arbeitet. Hilary halt durch und bring die Geschichte zu Ende.

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