McEwan: Abbitte

McEwan AbbitteWir haben es doch immer schon gewusst: die Welt es Kindes ist vom infantilen Egozentrismus geprägt – alles und jedes gewinnt Sinn und Richtung nur durch die Fokussierung auf den kleinen Matz. Ein solch kleiner Matz ist auch Briony Tallis, die jüngste Tochter von Jack und Emily Tallis, ein altkluges, genialisches Kind, das kleine Theaterstücke schreibt und der Familie zur Anschauung bringt. So harmlos beginnt McEwans Lebensdrama „Abbitte“, in dem das Unheil beschrieben wird, das aus kindlichem Egozentrismus, Eitelkeit und Schwachheit entstehen und ganze Lebensläufe vernichten kann.

Der opulente und sprachlich ausgefeilte Roman wird in drei Teilen und einem ( allerdings entscheidenden ) Nachspann präsentiert. Da ist zunächst das traumhafte altenglische Schloss, in dem in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts die kleine Briony herumphantasiert, während sich ihre Schwester Cecilie und Robbie, der hochbegabte Sohn der Haushälterin, heimlich lieben. Das nervöse Kind sieht die verwirrenden Zechen dieser Liebe und zieht weitab von jedem wirklichen Verständnis auf dem Hintergrund von kindlicher Geltungssucht,  und überreizter Phantasie verhängnisvolle Schlüsse. Als die Cousine Lola im Garten des Landhauses von einem Unbekannten überfallen wird, beschuldigt Briony den unschuldigen Robbie dieser Tat und zerstört damit nicht nur sein Leben sondern auch das ihrer Schwester, die unverbrüchlich an die Unschuld ihres Geliebten glaubt.

Der zweite Teil macht einen Sprung von fünf Jahren und versetzt den Leser in die Schlachtenhölle von Dünkirchen. Die englischen und französischen Armeen sind von den Deutschen vernichtend geschlagen worden und fliehen zum Meer, darunter auch Robbie, der inzwischen als Soldat begnadigt worden ist und dem Horror mit Mühe und Not entkommt.

Im dritten Teil kommt es zu einem scheinbaren Happyend, Robbie und Cecilie finden sich in London wieder und setzen ihre Liebe dort fort, wo sie vor Jahren unterbrochen wurde.  Inzwischen ist auch die kleine Briony gereift, sie hat die  Ungeheuerlichkeit ihrer Tat eingesehen und entschließt sich zum Widerruf ihre damaligen Anklage, einer öffentlichen eidesstattlichen Erklärung, die alles wieder ins rechte Licht rückt und den beiden ihr Leben und ihre Ehre zurückgebt.

Der Leser, der dem Autor bis zu diesem scheinbaren Abschluss der Handlung ( und das sind immerhin knapp 500 Seiten ) gefolgt ist, beschleichen an diesem Punkt des Buches allerdings zwiespältige Gefühle. Natürlich ist er dankbar, dass die  schreckliche Verleumdung das Leben von Cecilie und Robbie nicht zerstört hat, andererseits fragt er sich: ein Happyend – kann es das denn wirklich sein? Denn der Leser unserer Tage ist an Zirkularität, Doppeldeutigkeit, überraschende Wendungen und Tragik gewohnt und McEwan wäre nicht der Meister, der er ist, wenn er im Nachspann nicht auch dieses Bedürfnis befriedigt. Denn im kurzen Anhang („London 1999“ S. 505-534 des Buches), der die inzwischen uralte Briony Tallis als erfolgreiche Schriftstellerin wenngleich am Rande der Demenz porträtiert, erfährt der Leser zweierlei, was ihn gleichermaßen verblüffen wird: Zunächst ist das gesamte bisher verfasste Buch aus der Perspektive der alten Briony Tallis geschrieben und – das schlägt dem Leser wie ein nasses Handtuch ins Gesicht – das Happyend ist nichts weiter als „Dichtung“ in indem doppelten Sinne, es ist eine „Abbitte“ der als Kind zur Schuldigen gewordenen Autorin an die beiden Liebenden, in dem sie ihr Leben literarisch weiterführte. In Wahrheit hatten sich die beiden Liebenden nach Robbies Verhaftung niemals wiedergesehen, denn Robbie war im Juni 1940 an Blutvergiftung in Frankreich gestorben, nur kurz bevor auch Cecilie bei einem deutschen Bombenangriff auf London ums leben gekommen war. Da muss der Leser schlucken und erkennt für einen Moment eines der Geheimnisse der Literatur, das darin besteht aus der Bitterkeit des Lebens den Trost der Phantasie  herauszusdestillieren. Ein meisterhaftes und ergreifendes Buch.

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