McEwan: Am Strand

McEwan Am StrandIan McEwan erzählt in dem vorliegenden Buch eine Geschichte, deren Problematik so weit von der Gegenwart entfernt zu sein scheint, dass sie fast nur noch ein historisches Interesse beanspruchen kann. Sie spielt in England in einer Zeit, in der die Familie das selbstverständliche Zentrum des Lebens darstellt, in einer Zeit, in der man sich nicht ohne weiteres scheiden ließ und „in der Jungsein eine Art von Peinlichkeit war, die man so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte“, um in die Freiheit des Erwachsenseins zu fliehen. Wann mag das gewesen sein? Es waren die späten Fünfziger und die frühen Sechziger Jahre, die letzten Jahre der bürgerlichen Epoche, ehe die materiellen und sexuellen Revolutionen der späten Sechziger in kürzester Zeit alle bisherigen Fixierungen eliminieren sollten.
Edward und Florence sind Kinder dieser Zeit – er, ein strebsamer stattlicher und vielversprechender Student der Geschichtswissenschaft, sie, eine begabte Geigenspielerin, die ganz und gar in der Musik aufgeht. Beide hegen große Pläne für den weiteren Verlauf ihres Lebens, beide lieben einander so aufrichtig wie es nur möglich ist. Wo ist das Problem? würde heute jeder Oberstufenschüler fragen, doch schon die Frage erweist, welcher Epochenbruch unsere sexualisierte Gegenwart von der unmittelbaren Nachkriegszeit trennt. Denn die Welt von Lust und Sinnlichkeit, die heute jede Fernsehsendung und jede Maggi-Reklame durchtränkt, war damals ein dunkler gefährlicher Ozean, der tiefgreifende Versagensängste mobilisierte – vor allem im Hinblick auf die Hochzeitsnacht, der die Brautleute wie einem existentiellen Initiationsritus entgegensahen. So auch Edward und Dorothee, deren Brautzeit die beiden Liebenden im Geiste einer strengen Sittlichkeit daran gewöhnt hatte, die Wonnen der Körperlichkeit nur durch zwei Lagen Stoff zu spüren. Das wird nicht ohne Komik erzählt, denn wer würde nicht darüber schmunzeln, dass sich Florence beim Küssen innerlich darüber mokiert, dass Edwards Zunge ihr in einer Zahnlücke herumpult, in der sie sich selbst sonst nur in Momenten grüblerischer Selbstvergessenheit mit ihrer eigenen Zunge zurückzieht, während Edward sich fragt, ob er seine Frau vielleicht schon in der Hochzeitsnacht dazu überreden könnte, „seinen Schwanz mit ihren zarten Lippen zu umschließen“. Man sieht, die gegenseitigen Empfindungen sind Welten voneinander entfernt, und als Florence und Edward unmittelbar nach der Hochzeit ein kleines Hotel am Meer beziehen, um ihre Hochzeitsnacht zu erleben, kann man nur das Schlimmste befürchten.
Nun steht die Stunde der Wahrheit ins Haus, nun gilt das Motto Mit meinem Leib will ich dich verehren“, ein Eheversprechen, das die Florence schon lange vor der Hochzeit schlaflose Nächte bereitet hatte. Denn die Wahrheit ist, dass Florence, obwohl sie Edward auf eine blaustrumpfhafte Weise liebt, einen starken Widerwillen gegen jegliche sexuelle Aktivität verspürt, und dass sie ihren Edward, der die ganze Verlobungszeit mit einer Dauererektion durch die Gegend gelaufen war, immer nur mit stärkstem Widerwillen an sich herangelassen hatte. So ist sie fast dankbar, als sich Edward beim ungeschickten Hantieren in der Hochzeitsnacht vorzeigt entlädt.
Nun haben wir das Malheur. Florence rennt (erleichtert) aus dem Zimmer, und Edward bleibt mit seiner ejaculatio praecox gedemütigt und alleine zurück. Kein Wunder, dass das abschließende Gespräch der beiden am Strand lieblos und hart ist, denn Edward fühlt sich von der frigiden Florence betrogen, Florence vom stürmischen Edward auf eine unerträgliche Weise bedrängt, und wo aus heutiger Sicht ein wenig Geduld und Verzeihen die Problem mit der Zeit hätten beheben können, trennen sich Florence und Edward in dieser Nacht für immer.
Das ist im Kurzabriss die ganze traurige Geschichte. Wie ist sie literarisch geglückt? Uneingeschränkt, wenn die Spannung, mit der der Leser dem Schicksal der beiden bis zur letzten Seite folgt, ein Maßstab ist. Gewöhnungsbedürftig, wenn man die Erzählperspektive betrachtet. Denn dem Leser wird immer alles dreimal erzählt – zunächst aus den akribisch ausgeleuchteten Innenwelten von Florence und Edward und dann auch noch aus des Blickwinkel eines allwissenenden Erzählers, der an verschiedenen Stellen der Handlung den Leser beiseite nimmt und ihm in guter alter Vätermanier erklärt, was Sache ist. Das hat McEwan viel Kritik eingetragen, ich dagegen finde dieses antiquierte Verfahren gerade im Hinblick auf die fast schon antiquierte Thematik vertretbar.
Aber was ist die Moral von der Geschicht? Müssen wir nun ein Loblied auf die sexuelle Befreiung singen, auf Seitensprung, auf Promiskuität und explodierende Scheidungsraten? Natürlich nicht, wir erkennen aber auch, dass die Zeiten vor der heute so kritisch gesehen sexuellen Revolution auch nicht so golden waren, wie manche das heute gerne wahrhaben wollen. so bleibt nur die trübe Einsicht: wie man es mit dem Sex auch hält, ist falsch! Da ist man doch fast geneigt, sich stattdessen mit einem guten Buch zufriedenzugeben.McEwan Am Strand

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