Mo Yan: Frösche

56Einen neuen Autor kennen zu lernen, ist wie eine neue Bekanntschaft zu schließen. Erst ist man interessiert, fasziniert, dann wiederholt sich Vieles und am Ende ermüdet doch Manches. Nur zu wenigen Autoren und Bekannten werden die Bindungen im Laufe der Zeit enger, sie werden zu Freunden im eigenen Umfeld und in der Welt der Literatur. Bei Mo Yan kann man sich gut vorstellen, dass er für viele ein solcher Freund werden könnte, denn das vorliegende Buch ist ein regelrechter Türöffner – für das Thema China im Allgemeinen aber auch für Mo Yans Methode, sich seinem Gegenstand zu nähern. Um es gleich vorneweg zu sagen: endlich einmal wieder ein Werk, das im besten Sinne das bietet, was gute Literatur leisten soll: didactare und delectare – „belehren und erfreuen“ zugleich und das unaufdringlich verwoben in einer erfüllten Zeit.
Was mich an dem vorliegenden Roman am meisten beeindruckt hat, war der Zusammenklang des großem Panoramas und der sublimen Charakterzeichnung. Mit großem Panorama meine ich, dass die Handlung des Romans nicht mehr und nicht weniger als die gesamte Geschichte des modernen Chinas abdeckt – von den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges und der japanischen Besatzung, über die Zeit des „Großen Sprungs“, in dem die Kinder Kohlen kauen mussten, über die Kulturrevolution bis hin zum Durchbruch des kommunistisch verbrämten Raubtierkapitalismus in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Dieses imposante Bühnenbild wird bevölkert von einer ganzen Galerie origineller Gestalten, die nicht nur als Ideenträger auftreten sondern an deren Entwicklung und Eigenheiten sich die kollektiven Zeittendenzen brechen. Wan Liu Fu, der Großonkel des Erzählers und Gründer des ersten Krankenhauses in Nordost-Gaomi, Chen Nase, Yuan Gesicht, Wang Leber, die Lehrerin Tu, Wang Bein der Kohlenhändler, der verschlagene Yuan Backe, die leidende Chen Augenbraue und viele andere mehr haben ihre Auftritt in einem Handlungsgeflecht, dass durch ein Dreiviertel Jahrhundert chinesischer Geschichte führt.
Im Mittelpunkt der Handlung aber stehen der Erzähler Wan Fuß ( auch Kleiner Renner“ oder „Kaulquappe“ genannt ) und seine Tante Gugu, die alle Widersprüche des eines linientreuen aber aufopferungsvollen Kommunismus in sich vereinigt. Denn Tante Gugu ist sozial engagiert und gnadenlos, umsichtig und betonhart ideologisch, selbstlos und verbissen und als solche ist sie die wütende Vorkämpferin der gesamtchinesischen Kampagne zur Geburtenkontrolle in der Provinz Nordost-Gaomi. Nach dem Motto „Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder sind ein Verbrechen“ jagt sie ohne Rücksicht auf Verwandtschaft oder gesundheitliche Gefährdungen die Frauen, die ihre Kinder austragen wollen und zwingt sie notfalls noch im siebten Monat zur Abtreibung – wobei viele von ihnen elend verbluten. Auch Wen Fuß bzw. „Kleiner Renner“ ist von dieser Manie betroffen, denn seine eigene Frau Renmei wird von Tante Gugu im Zuge einer misslungenen Zwangsabtreibung viehisch abgeschlachtet. Der Roman, der mit der Vorstellung der pittoresken chinesischen Dorfgemeinschaft durchaus heiter beginnt, verwandelt sich spätestens bei der Schilderung dieser Szenen in eine bittere Abrechnung mit den menschenverachtenden Methoden des totalitären Kommunismus, der das Glück der Individuen auf dem Altar der eigenen Ideologie opfert. Man lernt: was von Intellektuellen unserer Breitengraden noch in den Sechziger Jahren als der chinesische Königsweg der Geburtenplanung gepriesen wurde, hat in Wahrheit zu unermesslichem Leid und nicht zuletzt zu Millionen „schwarz geborener“ Kinder geführt, die sich nun mit einem halblegalen Status durchs Leben schlagen müssen – von der demographischen Katastrophe einer schon jetzt deutlich erkennbaren Überalterung Chinas im 21. Jhdt. ganz zu schweigen.
Aber Mo Yans Frösche“ ( ein linguistisch abgeleitetes Synonym für Kinder) wären nicht das Meisterwerk, das dem Autor den Nobelpreis eingebracht hat, wenn allein der Kommunismus auf der Anklagebank säße. Spätestens ab den Achtziger Jahren, als sich Chinas mit der Reformpolitik von Teng Hsio Ping langsam aber sicher von der Planwirtschaft verabschiedete, schlug das Pendel in die andere Richtung aus. In der auf einem Plateau von 1,3 Milliarden Menschen sich stabilisierenden Bevölkerung werden die Kinder nun zum Marktobjekt: Wohlhabende Frauen, Unfruchtbare oder wen immer es danach gelüstet, können sich nun in Leihmütterfabriken Kinder gleichsam bestellen. So ergeht es auch dem Erzähler Wan Fuß, dem seine zweite Frau über eine raffiniert eingefädelte Leihmütterschaft endlich den erhofften männlichen Erben verschafft. Die mit diesen Zeittendenzen verbundenen Verwicklungen werden in dem vorliegenden Werk natürlich nicht nur referiert sondern anhand einer komplexen Handlungen plausibel – und zwar so, dass die Differenz von Zeittendenzen und Individualität (eben jene Nische, in der Literatur angesiedelt ist) niemals zugeschüttet wird. Der ganze Kosmos von Verweisungen und Anbindungen an die chinesische Kulturgeschichte, der Symbolismus der Tonkinder sowie die Anspielungen an traditionelle und aktuelle chinesische Internas kann hier noch nicht einmal angedeutet werden. Immerhin werden in einem Glossar am Ende des Buches die wichtigsten Begriffe für den westlichen Leser erklärt.
Alles in allem ein beeindruckendes Werk, das man nach der Lektüre bewegt zur Seite legt. Und ein Roman, der mich auf jeden Fall motivieren wird, auch die anderen Werke Mo Yans zu lesen. Über das dumme Geschwätz unserer Feuilletongiganten, die dem Autor nach der Nobelpreisverleihung zu große Nähe zur herrschenden kommunistischen Partei vorwarfen, braucht man indes kein Wort zu verlieren. Erstens beweist der vorliegende Roman das Gegenteil, und zweites kommt die Kritik von Leuten, die bei uns ihren Lebensunterhalt damit verdienen, keinerlei Distanz zum politisch korrekten Mainstream zuzulassen.

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