Oksanen: Fegefeuer

41Es wird gerne vergessen, dass all diejenigen, die in den Siebziger Jahren im Westen von einer friedlichen Koexistenz der  marktwirtschaftlichen und kommunistischen Systeme träumten, keinen Gedanken an  die unterdrückten Völker im sowjetischen Imperium verschwendeten:  die Letten, die Litauer, die  Ukrainer, Moldawier, von den Satellitenstaaten Osteuropas ganz zu schweigen – alles Schnee von gestern, der im Orkus der Geschichte verschwinden sollte.

Erst jetzt, nach dem Untergang des Kommunismus offenbaren sich die ökonomischen, sozialen und moralischen Verwüstungen, die der Kommunismus in seinem Jahrhundert angerichtet hat, in voller Härte. Jedes Volk, das aus sich aus dem russischen Völkerkerker emanzipierte, hat nun seine eigene Leidensgeschichte zu erzählen, millionenfach gebrochen in all den Einzelschicksalen, die der linke Totalitarismus während seiner Herrschaftszeit vernichtete – so auch das kleine Volk der Esten, dessen Schicksal in dem vorliegenden Roman der jungen estnischen Autorin Sofie Oksanen eine literarische Stimme findet, über die man nur staunen kann.

Von den Dreißiger Jahren bis an das Ende des 20. Jahrhunderts erzählt der Roman den Lebenslauf der Aliide Truu und ihrer Familie, der schönen Schwester Ingel und ihres Ehemannes Hans Eeriksohn Pekk, nach dem sich auch Aliide in geheimer Liebe verzehrt. Nach der Okkupation Estlands durch die Russen werden Ingel und ihre Tochter Linda nach Wladiwostok deportiert, während Ingels Ehemann Hans jahrelang von seiner Schwägerin Aliide in der Scheune ihres Bauernhofes versteckt wird. Vierzig Jahre nach diesen Ereignissen steht plötzlich Ingels Enkelin Zara als Flüchtling vor russischen Zuhältern vor der Türe ihrer Großtante Aliide, die zunächst gar nicht weiß, wen sie vor sich hat. In zahlreichen Rückblenden, Schnitten, Gesprächen und Erinnerungen entfalten sich nun die Verbindungslinien beider Generationen, bis die Handlung am Ende in einem furiosen Finale endet. Dieses Finale soll und darf an dieser Stelle natürlich nicht vorweggenommen werden – nur so viel sei verraten: Zara entkommt ihren Zuhältern, und Aliide, die vermeintliche Heldin des Buches, erscheint am Ende dann plötzlich in einem ganz anderen Licht.

Aber es ist nicht nur eine packende und kunstvoll verschachtelte Familiengeschichte, die die junge Autorin souverän erzählt –  gleichsam nebenbei entfaltet sich auch das Drama Estlands, das nach der russischen Okkupation 1940 und 1944 um seine nationale Existenz fürchten musste. Halunken, Denunzianten, Folterknechte und Mörder begleiten die  Leidensgeschichte des estnischen Volkes, wobei die Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems nur scheinbar besser wurden. Denn die Halunken, Denunzianten Folterknechte und Mörder sind keineswegs verschwunden, sondern sie haben unter dem Schirm der neuen Freiheit einfach vom politischen Fach in den Bereich der organisierten Kriminalität übergewechselt.  Was aus diesem Bereich über Mädchenhandel und Zwangsprostitution berichtet wird, gehört für mich zu dem Drastischsten, was es darüber zu lesen gibt.

So schroff und karg wie die Geschichte, die die Autorin erzählt, ist auch ihre Sprache. Sie   vermeidet Zuckerguss und Endlossätze sondern passt sich  dem Charakter der Figuren an. Manchmal hat man geradezu das Gefühl, dass die Sätze, die die Autorin schreibt, genauso knarzen wie die Dielen, über die die alte Aliide läuft.  Mit dieser Sprache erzählt Oksanen ihre Geschichte wie ein Beleuchtungskünstler, der in kurzen Schnitten einen großen, unbekannten Raum in kurzen flashs so ausleuchtet, dass sich erst am Ende eine Gesamtansicht ergibt, die der Leser in dieser Form nicht erwarten konnte.

 

 

 

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