Ongaro: Der belebte Schatten

Ongaro Der belebte SchattenDer Ursprung der Liebe, so erklärt die Hauptfigur des vorliegenden Romans seiner Geliebten, ist ein Gefühl des Mangels, ein Ungenügen, das sich in der Fülle des Anderen zu erlösen trachtet. Die schöne Rose, umgeben mit der rätselhaften Aura der Schönheit und der Unverletzlichkeit, besitzt diese Fülle, diesen Ozean des Lebens, in das der junge Student,  den die Erinnerungen an den Selbstmord seines Vaters quälen, nur allzu gern für immer flüchten würde. Doch die schöne Rose verlässt ihren melancholisch-ängstlichen Geliebten, betrügt ihn und verschwindet für immer aus seinem Leben. Achtundzwanzig Jahre später entdeckt der verlassene Geliebte, inzwischen zu einem arrivierten Kunsthändler herangereift, in einer Fotoausstellung in London das Bild eines Pariser Bistros aus dem Jahre 1958, auf dem er Rose und den Mann zu erkennen glaubt, um deretwillen sie ihn damals verlassen hat. Die Obsessionen der Vergangenheit brechen auf, die verschorfte Wunde öffnet sich erneut, und eine detektivische Suche nach der verlorenen Zeit beginnt, die zugleich eine Suche nach dem das verlorenen Glück ist. Der Kunsthändler reist nach Paris, durchmisst noch einmal die  Straßenschluchten und Parks von Paris, besucht die Restaurants, Hotels und Bars der frühen Jahre, in denen er einen Wimpernschlag seines Lebens hatte glücklich sein dürfen, um am Ende, zum Abschluss einer  kunstvoll verästelten Geschichte, zu entdecken, dass die  scheinbar so unverwundbare Rose einem sinnlosen Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Das ist an sich schon eine reizvolle, poetisch ergiebige Geschichte, doch die Art, wie Alberto Ongaro sie in Szene setzt, erhebt das kleine Buch zum Meisterwerk. Mit den Augen des jungen hoffnungslos und unglücklich verliebten Studenten und aus der Perspektive des achtundzwanzig Jahre älteren Kunsthändlers  durchlebt der Leser eine bezaubernde Liebesgeschichte, in deren Entstehung schon der Keim des Endes und deren Ende schon der Keim der Tröstung enthalten sind. Ein wunderbares Buch für jedermann, besonders aber für diejenigen, die den vergebenen Glückschancen des eigenen Lebens ein sentimentales Angedenken bewahren und auch einmal gerne wissen möchten, was aus den Protagonisten einer scheinbar so grenzenlos offenen Vergangenheit geworden ist.

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