Petterson: Pferde stehlen

16Manche Bücher erschließen sich durch ihren Plot, manche durch ihre Hauptpersonen, wieder andere überzeugen durch ihre Handlungsführung oder ihr überraschendes Ende. Das vorliegende Buch erließt sich durch seine Sprache und sein Tempo, durch eine ruhige Erzählweise, die dem Leser Zeit lässt, die Worte auf sich wirken zu lassen und ihrer Bedeutung nach zu schmecken. „Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, es war warm zwischen den Bäumen, es roch warm, und von überall her waren Geräusche zu hören: Flügelschlagen, Äste, die sich bogen, Zweige, die knackten, ein Habicht, der schrie, der letzte Ruf eines Hasen, und das leise Brummen. Ich atmete tief durch die Nase ein und dachte, egal, wie mein Leben einmal verlaufen wird und wohin auch immer ich reisen sollte, an diesen Ort, so wie er jetzt ist, werde ich mich stets erinnern und ihn vermissen.“(Seite 34)

Das ist die Stimmung des Buches „Pferde Stehlen“ des norwegischen Autors Per Petterson, und viel mehr ist eigentlich nicht zu sagen. Die ganze Handlung ist nur eine Konkretisierung dieser Stimmung einer erinnerten Vollkommenheit, wobei doch angemerkt werden soll, dass die formale Raffinesse, mit der die Geschichte gleichsam aus der Sichtweise eines alten, reifen Menschen nach rückwärts erzählt wird, ein literarischer Genuss ist.

Worum geht es im Einzelnen? Ein Sohn verlebt mit seinem Vater im Sommer des Jahres 1948 einige Wochen in einer norwegischen Provinz, es gibt Bäume, Feuer, Bäume, die gefällt werden, ein Unfall, bei dem der Bruder eines Freundes zu Tode kommt, Erinnerungen an die deutsche Besatzung im Weltkrieg, eine schöne Anwohnerin, die in einem ungeklärten Verhältnis mit dem Vater steht. Es gibt Augenblicke von Freundschaft und Vollkommenheit und die Ahnung eines großen Lebens, von der der Junge noch nicht wissen konnte, dass sich solche Ahnungen fast niemals erfüllen- und den überlebensgroßen Vater, den der Sohn über alles verehrt und bewundert. Der Vater ist das absolute Leitbild im Leben des 15jährigen Jungen, der sich nichts Großartigeres vorstellen kann, als eines Tages so zu werden wie er. Doch am Ende des Sommers verschwindet der Vater, er verlässt die Familie ohne Vorwarnung und oder Erklärung, und für den Sohn war es „ als habe jemand eine Decke herabgesenkt und verberge alles, was ich jemals wusste. Es war, als beginne man das Leben von vorn. Die Farben waren anderes, die Gerüche waren anders, das Gefühl, das mir die Dinge tief in mir drin gaben, war anders.“(229) Auch nach seiner Rückkehr in die Stadt fährt der Junge noch wochenlang mit dem Fahrrad zum Hauptbahnhof von Oslo, um den Vater am Bahnhof zu erwarten, ehe er einsehen muss, dass er unwiderruflich verlassen worden ist und ihm nichts bleiben wird als die Sehnsucht nach einer späten Kindheit, als noch alles heil und richtig schien.

Als alter Mann, unmittelbar vor der Jahrtausendwende kehrt der Protagonist an den Fluss zurück, an dem er den Vater kurz vor dessen Verschwinden das letzte Mal zusammen gewesen war. Nun gibt es nur noch den überbeanspruchten Rücken, die Sorge über die vereiste Auffahrt, den Besuch der komplizierten Tochter, den Hund, den Wind, die Birke – alles wirklich Wichtige aber hatte sich aber schon vor einem halben Jahrhundert zugetragen.

 

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