Petrov: Die Manon Lescaut von Trudej

55Manon Lescaut ist die Titelheldin eines Romans von Andre Prevost aus dem Jahre 1731. Giacomo Puccini verfertigte daraus im Jahre 1893 die gleichnamige Oper mit einer Titelheldin, die seitdem für flatterhafte Liebe, Schönheit, Verrat und Unglück steht. Manon Lescauts Liebhaber, der unglückliche Chevalier de Grieux, wurde durch Prevost und Puccini gleichzeitig zum Sinnbild eines Liebenden, der seiner eigenen Liebe zum Opfer fällt, einer Liebe, die sich nicht um Würdigkeit, Dauer, Treue und Gegenliebe schert, sondern wie ein wirklichkeitsresistentes Verhängnis ihren Träger ins Unglück stürzt.
Soweit der geistesgeschichtliche Hintergrund des für viele Leser sicher zunächst einmal rätselhaften Titels. Die Sache, um die es sich dreht, ist allerdings alles andere als rätselhaft: sich in die Liebe zu verlieben, ganz unabhängig von dem Objekt der Liebe, gehört zu den primären Irrungen der Liebe, vor denen niemand gefeit ist und die die meisten schon einmal durchlitten haben werden. Was also ist neu an dem vorliegenden Werk, das vom deutschen Feuilleton geradezu enthusiastisch gefeiert wurde? Meiner Ansicht nach: Einiges – einschließlich einer ergreifenden Neuinszenierung dieses Motivs vor dem Hintergrund eines vollkommen verwandelten Bühnenbildes.
Wie sieht dieses Bühnenbild aus? Wir befinden uns im Zweiten Weltkrieges, die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Russland ist in vollem Gange, während ein russischer Sanitätszug mit Offizieren, Ärzten und Krankenschwestern in den Weiten Russlands zwischen den Frontabschnitten hin und her fährt. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines kultivierten und introvertierten russischen Offiziers, der das 18. Jhdt. liebt, Marie Antoinette und Goethe verehrt und im Werther liest – und bezeichnenderweise an einer Herzkrankheit leidet. Dieser Offizier, dessen Namen unerwähnt bleibt, verliebt sich Vera Muschnikowa, eine der zahlreichen Krankenschwestern, die zusammen mit Ärzten und Soldaten den Waggon bewohnen. Vera ist hübsch, emotional, lebhaft, auf eine kitschige Weise romantisch und wie sie im Hinblick auf ihre Liebschaften gleich von Anfang an offenbart: chronisch unzuverlässig und launisch. „Vera wusste selbst wenig über sich. Da waren nur Bruchstücke und Scherben, die sich nicht mehr zusammenfügen konnten. (…) Ich begegnete ihrer Jugend. Billige Kinos, wo man im Stehen auf den Beginn der Vorstellung wartet. Freundinnen, mit denen es nie wirklich fröhlich wurde. Treppenhäuser mit trübem elektrischem Licht, wo sie sich verstohlen die Lippen schminkten. Sehnsucht, die zu nichts führte. Armselige Feste, die in fast so etwas wie ebenso armselige Orgien mündeten. Briefchen, Jungen, Korridore in der Schauspielschule.“(S. 69)

Nach kurzer Zeit wird das labile und flatterhafte Mädchen von der Liebe des ernsten Offiziers wie von einer  Marotte infiziert, und bald bekennen sich beide vor der missgünstigen Waggonbesatzung zueinander. Nachdem der Zug durch einen deutschen Luftangriff beschädigt wurde, leben sie eine Zeit lang in Trudej, einem weltabgelegenen Ort im Süden von Moskau, ehe der Offizier an einen anderen Frontabschnitt versetzt wird und Vera zurückbleibt. Schon nach kurzer Zeit, als er sie in Trudej besucht, muss er entdecken, dass sie ihm untreu geworden ist – mehr noch: dass sie versucht, ihn planmäßig hinters Licht zu führen, um ihre Techtelmechtel zu leben. Den Offizier überrascht das nicht, wenngleich ihn Veras Tod infolge eines deutschen Bombenangriffes nachhaltig erschüttert.
So weit zu kurz. Nach 94 groß gedruckten Seiten ist die Geschichte zu Ende. Auf den ersten Blick nichts, was auf der Klaviatur der Liebe auch nur im Ansatz überraschen könnte. Der edle Mann, vom flatterhaften Weib enttäuscht, das war´s.

Wars das  wirklich? Ich finde nicht ganz, denn bei einem ein zweiten Lektüredurchgang erschloss sich mir eine andere Deutung. Der Offizier macht sich ja anders als der Chevalier de Grieux über seine Partnerin von Anfang an wenig Illusionen. Wie tief und ernsthaft er seine Vera auch immer lieben mag – auf jeden Fall begreift er, wie er selbst am Ende des Buches formuliert, die Liebe im allgemeinen wie auch seine eigene Liebe im Besonderen als eine ästhetisch intendiertes „Kunstwerk“ selbst geschaffen hat. Geschaffen aus seinen überschüssigen Gefühlen, mit denen er eine belanglose Person behängt und zur bedeutsamen Figur befördert. Dass er damit einer solipsistischen Liebe frönt und der Person Vera Muschnikowa in keiner Weise gerecht wird, versteht sich von selbst.
So erschöpft sich das Buch trotz des anspielungsreichen Titels keineswegs nur in der Manon Lescaut Thematik sondern erschließt minutiös eine weitere Spielart der misslingenden Liebe, die wie ein Gewächs gleichsam aus dem Liebenden herausquillt und der es egal zu sein scheint, auf welchem Boden sie erblüht – Hauptsache, sie blüht, und sei es auch nur für eine kurze Zeit. Konzentriert und wie in Stein gemeißelt, kommen die Sätze daher, jeder Absatz, jede Bemerkung trifft die Sache, keinerlei Geschwätzigkeit stört diese konzentrierte Mikrostudie über das Spiel der Gefühle im Umkreis von Einsamkeit und Frost.

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