Roth: Amerikanisches Idyll

Roth Ameriaknsiches IdyllAlles fing damit an, dass die kleine Tochter der Levovs im Fernsehen Bilder brennender Mönche sieht, die in Vietnam gegen den Diktator Diem demonstrierten. Es handelte sich um die kleine Merry Levov, die leicht stotternde, aber aufgeweckte und intelligente Tochter von Seymour und Dwan Levov, einem Lederwarenfabrikantenehepaar aus den obersten Gesellschaftsschichen. Und ehe sich die Eltern versehen, ist es schon passiert. Das bis dahin freundliche Kind entdeckt  plötzlich seinen Hass gegen das eigene Land, verflucht seine Repräsentanten und preist totalitäre kommunistische Diktaturen in Asien. „Du w-w-wahnisnniger Irrer. Du mi-mi-mieses gemeines Monster,“ geifert das erregte Kind vor dem Fernseher, wenn Präsident Johnson auf dem Bildschirm auftaucht (S.143). Doch wie wir heute wissen, war Merrys  Aufbegehren kein Einzelfall, er war Teil eines massenhaften Protestes namentlich der  Mittel- und Oberschichtenjugend gegen den Krieg in Vietnam. Gerade die junge Generation, die so nachsichtig und liebevoll aufgezogen worden war wie keine Generation vor ihr, begann plötzlich ihren eigenen Eltern Hass und Verachtung entgegenzuschreien.

Wie viele andere Eltern auch sind Seymour und Dwan Levov von dieser Entwicklung vollkommen überrascht.  Ihre Tochter beginnt ihnen zu entgleiten, aus irgendwelchen Quellen kommen extremistische  Schriften ins Haus, Kontakte zu radikale Kommunisten in New York bahnen sich an, und endlose Streitigkeiten erfüllen das Haus, ob und wie lange die minderjährige Tochter in die große Stadt fahren darf. In der Hochdruckzone ihres ideologischen Wahns verliert Merry bald jedes Maß und versucht,  im Jahre 1969 unter Anstachelung ihrer Kumpane „den Krieg in das eigene Land zu tragen“. Sie organisiert einen Bombenanschlag auf das örtliche Postamt, bei dem ein Anwohner zu Tode kommt und verschwindet im Untergrund.

Zurück bleiben der verzweifelte Vater und seine Frau Dwan, eine ehemalige Schönheitskönigin, die vor Kummer in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden muss.   Keine Sekunde zweifeln sie daran, dass die kümmerlichen Gestalten, die in den späten Sechziger Jahren auch in den USA den Kampf beginnen, Wahnsinnige sind, die der Gesellschaft den Krieg erklärt  und ihre Tochter zur Gewalt verführt haben. „Was war dieses ganze kranke Unternehmen anderes als der Ausdruck eines wütenden infantilen Egoismus, nur dünn maskiert als Identifikation mit den Unterdrückten?“(S.188) denkt der Vater, doch er gibt die Hoffnung nicht auf, seine Tochter eines Tages zurück zu erhalten. Doch sie kommt nicht zurück, nur noch einmal sieht sie der Vater als heruntergekommene und halb verhungerte Jaina, dann entschwindet sie aus dem Leben der Levovs.

Auch wenn der umfangreiche Roman neben diesem Hauptmotiv noch zahlreiche andere Thematiken anschneidet – etwa den industriellen Niedergang Amerikas, das Rassenproblem, die Frage der jüdischen Identität oder das abwinkende Niveau der öffentlichen und privaten Moral – handelt es sich bei dem vorliegenden Werk also um einen Roman über die Jugendrevolte – aber aus der Sicht der Eltern, und auf der Anklagebank sitzen nicht die Charaktermasken des Systems, sondern die Charaktermasken jugendlicher Pubertanten, die in kurioser Selbstüberschätzung vorgeben, die Welt retten zu wollen. Philip  Roth, der große Chronist der amerikanischen Befindlichkeit schreckt dabei auch nicht davor zurück, dem heute herrschenden  Zeitgeist ( der die 68er Epoche kurioserweise als Zivilisierungsschub verklärt), kräftig vor das Schienenbein  zu treten. Die  Figuren aus dem jugendlichen Untergrund agieren bei ihm nicht als Helden oder Freiheitskämpfer, sondern als bösartige Kobolde, die Dostojewskis „Dämonen“ mit Bomben in den Händen gegen ihre eigene Bedeutungslosigkeit protestieren. Schon allein dieser Fokus hebt den Roman weit über den Durchschnitt vergleichbarer Bücher hinaus. Allerdings – diese Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen – hätte dieser ausgezeichnete und teilweise erschütternde Roman noch besser sein können, hätte Roth seine Fabulierlust nur ein wenig mehr gezügelt und den Roman ein wenig konzentrierter konzipiert. Trotzdem ein ungemein interessantes und ungewöhnliches Buch, dessen Lektüre all denen empfohlen werden sollte, für die Kulturrevolution der späten Sechziger noch immer  das non plus ultra der Menschheitsgeschichte ist.

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