Schneider: Kristus

Schneider kristusDie Geschichte des Wiedertäuferreiches von Münster gehört zu den befremdlichsten und zugleich faszinierendsten Episoden der an Unerhörtheiten so reichen Epochen des frühen 16. Jahrhunderts. Wo Menschen auf die Stadtmauern kletterten um den Horizont nach den heranrasenden apokalyptischen Reitern abzusuchen, wo sich Männer und Frauen um ihres Glaubens willen verbrennen ließen, besaß Zeit eine Inbrunst, von der man nicht weiß, ob man sie darum heute bewundern oder bedauern soll.   Zugleich erscheinen Gestalten wie Jan van Leyden und Jan Mathys wie gnadenlose Vorwegnahmen von Terroristen und Fanatikern unserer eigenen Epoche, wie geschichtliche Probeläufer eines Unheils, das sich viel später und viel schrecklicher wiederholen sollte.

Der vorliegende Roman von Reinhold Schneider führt den Leser genau in diese   europäische Wendezeit  zwischen 1518, dem Jahr, in dem der junge Jan Beukels bei einer Prozession in seiner Vaterstadt Leyden seinem religiösen Erweckungserlebnis teilhaftig wird, bis in das Jahr  1535, als er als König der Wiedertäufer unter der schrecklichen Marter der Henker auf dem Marktplatz von Münster zu Tode kommt.  Dazwischen folgt der Leser dem jungen Jan fast zwei Jahrzehnte lang durch die Niederlande, England, Portugal und Deutschland, er blickt mit seinen Augen auf die Händel von Kaiser und Fürsten, auf die religiösen Eruptionen der anhebenden Konfessionskriege, aber auch auf die Verlockungen der Sinnlichkeit, die den gut aussehenden Jan auf jeder Etappe seines Lebensweges bedrängen.  Es ist eine Geschichte voller Saft und Kraft, blutvoll wie die Zeit, von der sie berichtet, aber auch voller Angst vor der ewigen Verdammnis, voller Sinnlichkeit und Gier, aber auch voller Erhabenheit und Askese.

Im Unterschied zu vielen literarischen Bearbeitungen der historischen Vergangenheit hält sich der Roman streng an die geschichtliche Überlieferung, ohne dafür die bei der Gestaltung der Geschichte die literarischen Freiheiten zu opfern. Wer allerdings eine ähnlich intensiven  sprachlichen Sog wie in „Schlafes Bruder“ erwartet, wird enttäuscht werden, Schneider erzählt seine Geschichte ohne große Verfremdung gerade heraus, linear  und unprätentiös, fast eine wenig wie ein literarisch ambitioniertes Jugendbuch. Der Freude an der Lektüre tut dies keinen Abbruch, und der Spannung schon gar nicht. Nicht unbedingt etwas für literarische  Avantgardisten, aber erste Wahl für Freunde des anspruchsvollen historischen Romans.

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