Sperber: Wie eine Träne im Ozean

1 (358)Eine ganze Sommerreise habe ich in diesem Buch gelesen, nun ist es nach 1035 Seiten zu Ende. Es war eine literarische Reise zu den Grundfragen von Geschichte und Politik, von Liebe und Wahrheit, es war für mich ein Geschenk und ein Ereignis. Das Buch, das eigentlich eine Romantrilogie ist und aus drei Büchern besteht (“Der verbrannte Dornbusch“, “Tiefer als der Abgrund” und “Die verlorene Bucht”) spielt in den Jahren 1931 bis 1945 an Dutzenden von Schauplätzen in ganz Europa, in Dalmatien, in Paris, Berlin, Wien, Moskau, Marseilles, Bari, Prag und anderswo, und es wird bevölkert von einer ganzen Galerie literarisch brillant geformter Figuren, die bis auf die Hauptperson – Donjo Faber – alle nacheinander eines gewaltsamen Todes sterben.
So individuell und psychologisch nachvollziehbar diese Figuren als Personen auch geformt sind – so stehen sie und ihre Schicksale stellvertretend und exemplarisch für ein Grundproblem menschlicher Existenz: die Möglichkeiten einer dauerhaften Verbesserung der Welt in der Zukunft ohne damit das Leid der Menschen in der Gegenwart zu vergrößern. Mit diesem Anliegen geraten die Hauptpersonen zwischen die Mühlsteine der beiden großen Satanismen des 20. Jahrhunderts – dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, die beide grenzenlos und radikal die Welt nach ihrer Ideologie verändern wollen, ohne sich eine Sekunde darum zu scheren, welche menschlichen und moralischen Kosten dieses Ziel erfordert. Es macht den literarischen Rang des vorliegenden Werkes aus, dass die Hauptfiguren der Trilogie nicht frei schwebend zwischen diesen Extremen agieren, sondern fast alle aus der kommunistischen Ecke kommen und erst im Laufe ihres Lebens erkennen, dass Kommunismus und Nationalsozialismus nur zwei Spielarten des modernen Grauens sind. Der jugoslawische Kommunist Vasso, eine der sympathischsten Gestalten der Trilogie, der diese moralische Entwicklung am Ende mit seinem Leben bezahlen wird, vertritt noch am Anfang eine strikte Parteilinie ”Vielleicht kann man die Menschen nicht erlösen, wenn man sie zu sehr liebt,” führt er aus. “Der Heiland hat die Welt erlösen wollen, aber es ist ihm nicht gelungen. Es genügt nicht, für die Menschen zu sterben, man muss für sie morden. Es ist ein Fluch, Erlöser zu sein, die Welt ist zu böse, sie können nicht gut sein.”(S.22). Fast eintausend Seiten später, am Ende einer Agonie von Gewalt und Tod, erklingt aus dem Munde eine sterbenden jüdischen Jungen die kontrapunktische Position: “Gott kann zornig sein und sanftmütig, nachtragend kann er sein und gnadenreich im nächsten Augenblick, aber eines ist er immer, ununterbrochen in aller Ewigkeit: der Schöpfer der Welt, eines jeden Geschöpfes, auch des Frevlers. Man kann keiner Kreatur ein Leid zufügen, ohne dass der Schöpfer litte.”(S. 915)
Das ist der moralische Hintergrund, vor dem sich das geschichtliche Drama der vierzehn prägenden Jahre des 20.Jahrhunderts entfaltet. In einer kaum noch überschaubaren Zahl von Haupt- und Nebengestalten entfaltet der Autor eine Erzählung ganz großen Stils mit einer poetischen Kraft, die ihresgleichen sucht. An Hunderten von Stellen möchte man innehalten und die Zitate herausschreiben, weil sie gleichsam nebenbei unaufdringlich Sachverhalte in Sprache gießen, die man immer schon gefühlt, aber noch nie so gelesen hat. Über eine beliebige Frau heißt es: “Sie war nicht mehr jung und wahrscheinlich nie schön gewesen – eine jener Frauen, die Verführerinnen werden, weil sie es nicht ertragen, darauf zu warten, das ein Mann sich endlich dazu entschließe, sie zu verführen.” (S. 552) Oder über den Baron von Stetten, den Lehrer Donjo Fabers “Er hatte es gar zu schwer mit Menschen, die gerade im vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehr absolute Gewissheiten hatten als Brot, ihre Kinder zu nähren.“ (S. 254) und über Wien liest man: “Es war seine Stadt, hier war er jung gewesen. Er kannte sie zu genau wie man eine Frau kennt, die man nicht mehr liebt.“(S:120). Das ganze Buch ist eine einzige stilistische Labsal, das seltene Beispiel eines Werkes, in dem die Form und der Inhalt gleichermaßen auf hohem Niveau harmonieren.
Die eigentliche Erzählung beginnt mit einer wagemutigen kommunistischen Kurrieraktion im diktatorisch regierten Königreich Jugoslawien etwa am Beginn der Dreißiger Jahre, wechselt dann nach Wien und Berlin, um die Situation unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu beleuchten. Geschildert werden die Ereignisse dabei vorwiegend aus der Innensicht der kommunistischen Partei und ihrer Funktionärselite, die vom Aufstand der Arbeiterklasse gegen ihre bürgerlichen und faschistischen Unterdrücker träumt und keinerlei Abweichungen von der eigenen Parteilinie duldet. Festgelegt wird diese Parteilinie einzig und allein in Moskau und ganz gleich, welche katastrophalen Fehleinschätzungen der russischen Zentrale unterlaufen, jede Kritik an dieser Parteilinie ist unwillkommen, bald verfemt und schließlich tödlich. Als die irrsinnige Stalin-Parole von der Sozialdemokratie als der Hauptstütze des Faschismus die kommunistische Arbeiterbewegung in Deutschland ins Verderben führt, beginnen die Protagonisten des Romans zunehmend zu zweifeln: Vasso und seine Frau Mara, der kommunistische Reichstagsabgeordnete Herbert Sönnecke, Donjo Faber und der Dichter Djura geraten in Konflikt mit den Apparatschiks, werden nach und nach aus der Partei ausgestoßen und müssen schließlich noch mehr als vor der Gestapo vor der russischen GPU um ihr Leben fürchten. Am Ende, die Vernichtung der eigenen Familie und den sicheren Tod vor Augen, schleudert Herbert Sönnecke seinen Folterern im Moskauer Gefängnis eine Wahrheit ins Gesicht, die bis auf den heutigen Tag kein Kommunist hören mag: ”Ihr habet den Sozialismus verwirklicht, sagt ihr, seither haben die Arbeter nicht einmal mehr wirkliche Gewerkschaften, keine Koalitionsfreiheit, keine Bewegungsfreiheit, aber die Polizei, vor der sie nicht weniger Angst haben, als vor der des Zaren, muss ihnen lieb sein, weil sie, sagt ihr, das Schwert der Revolution ist. Mich werdet ihr nicht herumkriegen, ihr seid nicht unsere Polizei, wir haben keine Polizei, für mich seid ihr der gleiche Feind, den ich kenne, seit ich in der Bewegung bin.” (S, 396f.). Nachdem sie ihm mit Gewehrkolben den Kiefer eingeschlagen haben, wird Sönnecke in einem Moskauer Keller von der GPU erschossen.
Inzwischen ist der Arbeitaufstand in Wien gescheitert, Hitler hat die Macht vollständig ergriffen und gefestigt, der spanische Bürgerkrieg ist ausgebrochen, doch noch immer richtet sich der Hauptkampf der kommunistischen Weltpartei gegen die Abweichler in den eigenen Reihen. Tausende verschwinden in kommunistischen Gefängnissen im Spanischen Bürgerkrieg, wer kann, taucht in der Emigration unter. Doch die Nationalsozialisten sacken immer größere Teile des europäischen Kontinentes ein, so dass am Ende nur noch Frankreich bleibt, die letzte Kontinentalmacht, die sich Hitler in den Weg stellt. Als Hitler mit seinem Spießgesellen Stalin im Jahre 1939 den Nichtangriffspakt und die Aufteilung Polens beschließt, beginnen die französischen Arbeiter auf Moskauer Geheiß, die Munitionsherstellung in Frankreich zu sabotieren – die Partei befielt es, und die Partei hat immer recht. Die Massen auf der links- wie auf der rechtstotalitären Seite des Spektrums sind wie Wasser, heißt es an einer Stelle: “gib rotes Licht drauf, sind sie rot, grünes Licht, sind sie grün.”(S.421). Als dann Frankreich in kürzester Zeit unter den Schlägen der deutschen Militärmaschinerie zusammenbricht, scheint das Ende der Welt gekommen zu sein. Donjo Faber, aus dessen Perspektive der Großtteil des Buches erzählt wird, sucht den Selbstmord und wir nur durch die Begegnung mit einem elternlosen Kind davor bewahrt.
Der dritte Teil der Romantrilogie aber beginnt mit der Rückkehr Fabers in den politischen Kampf – an der Seite einer vollkommen aussichtslosen antikommunistischen und antifaschistischen Splittergruppe im jugoslawischen Partisanenkrieg. Zwischen panserbischen Tschetniks, kroatischen Ustascha, italienischen Faschisten und deutschen Nazis wird die Gruppe aufgerieben und zerschlagen. Der Dichter Djura wird von den Ustaschas gefangen genommen und zum Henker geführt. “In der ersten der achteinhalb Minuten, die er von da an noch zu leben hatte, entschwand ihm die Einheit seines Wesens. Die Beine gehorchten nicht mehr, sie waren hinten, an der Schwelle zurückgeblieben. Er riss den Mund auf, aber der Schrei kam nicht über seine Lippen. Ein rasend nagendes Tier lief in seiner Brust auf und ab. Seine Därme brannten auf dem Eis. Die Wärter schleiften ihn unter den Galgen. Er wurde als zweiter gehängt.”(S. 808).
Neue Figuren, die bislang im Hintergrund gestanden hatten, rücken nun nach vorne – so etwa der Jude Edi Rubin, der die ganzen Dreißiger Jahre die Emigration nach Amerika immer weiter aufgeschoben hatte, bis die Nazis seine Frau und seinen kleinen Sohn fingen und in einem osteuropäischen Vernichtungslager vergasten. Edi Rubin, dem es nicht gelang, seine Familie zu retten, steht im Mittelpunkt der berühmtesten Passage der Trilogie, der sogannnten “Wolnya” Episode, in der geschildert wird, wie sich 28 Juden unter der Führung Rubins dem Abtransport in den Tod widersetzen und am Ende am Antisemitismus der Polen zugrunde gehen. Auch das ist eine der schonungslosen Wahrheiten, die den literarischen Rang des Autors erhöhen, seine Anhängerschaft doch so erheblich dezimierten, dass er niemals den Nobelpreis erhielt: die Tatsache der überwiegenden Passivität der jüdischen Opfer und der widerliche Mittäterschaft der osteuropäischen Nationen bei großen Völkermord an den Juden. “Bauernschlauheit in den Augen, aber keine Bosheit in ihnen, Mund und Kinn weich, leichtsinnig, auftrumpfend. Die Nase – oben Apollo, unten eine Kartoffel. Die Wangen plattgedrückt, viel Haare auf dem Kopf, langweilig blond. Ist überzeugt, davon, dass es nichts Edleres gibt als einen Polen. Und würde jetzt gerne in den Stollen zurückkehren und die gute Nachricht bringen, dass man die Juden erschlagen darf.”(S. 924).
Das Buch endet nach der Invasion der Alliierten in Frankreich, doch den Heimkehrer Faber erwartet eine deprimierende Situation. Die Kommunistische Partei setzt auch in Frankreich zum Griff nach der Macht an, liquidiert noch im Frieden Abweichler unter den Augen so genannter bürgerlicher Verbündeter. Die Renegaten und Wendehälser, die Apparatschiks haben wieder Oberwasser, und auch die Jugend schließt sich der scheinbar unfehlbaren Partei an. Auf der Suche nach Überlebenden trifft Donjo Faber eine junge Frau, die sich als fanatische Kommunistin entpuppt.“Sie mochte an die dreißig Jahre alt sein, eine Bürgerliche, die vor kurzem eine neue Religion entdeckt hat,”(S. 1016) notiert der Autor wie eine prophetische Vorwegnehme der 68er Fanatiker, die noch zu Lebzeiten Sperbers in all ihrer Unbildung und Ungeschichtlichkeit in die gleiche Kerbe hauten. Insofern ist dieses Buch in hohem Grade zeitgemäß, da in unserer politischen Gegenwart alle Varianten des Nationalsozialismus mit Recht geächtet sind, die Erscheiungsformen eines scheinbar weichgespülten Kommunismus sich aber einer noch immer einer kaum nachvollziehbaren Duldung erfreuen.

So hält das große Werk am Ende keinerlei Hoffnung für den Leser bereit – allenfalls den Rat, sich immer an die Wahrheit zu halten, an die konkrete Mitmenschlichkeit und sie niemals einer vermeintlich höheren Moral zu opfern. Bedrückend aber ist die Einsicht, dass die Weisheit, die in diesem Werk steckt, von jeder Generation immer wieder aufs Neue vergessen werden wird.

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