Auster: Winterjorunal

Manchmal, in Phasen der Unentschlossenheit, weiß man nicht recht, welches Buch man lesen soll. Da trifft es sich gut, ein Buch zur Hand zu nehmen, das diese Unentschlossenheit zum Thema hat, ein Buch, in dem der Autor hin und her reflektiert, sich mal an dieses, mal ein jenes erinnert und in der Erinnerung wie in einem großen Suppentopf herumrührt, aus dem man sich dann und wann mal gerne  wieder eine Terrine einschenkt. Die Rede ist von Paul Austers „Winterjournal“, einer Art Lebensrückblick in Gestalt zahlreicher atmosphärisch dichter Miniaturen, die sich leicht und locker lesen wie eine Zwischenmahlzeit, bis man wieder ein Buch gefunden hat, das einen wirklich ergreift.

Aber da ich schon mal dran war, las ich weiter. Der Duktus des Buches gefiel mir gut, denn der Autor machte den Leser zum Zeugen seines eigenen Gespräches mit sich selbst, oder besser gesagt:  nicht mit sich selbst, sondern mit sich selbst in Beziehung zu seiner Körperlichkeit. Denn es gab mindestens drei Paul Austers, (1) den Geistmenschen, (2) den Körpermenschen und (3) denjenigen, der zwischen den beiden das Gespräch vermittelte. Wir waren also während der Lektüre, mich eingeschlossen, zu viert.  Kein Wunder also, dass zunächst die körperlichen Erfahrungen im Mittelpunkt standen: Verletzungen, Schmerzen, Krankheiten, erste Liebeserfahrungen und  Verluste. Je weiter das Buch voranschritt, desto  deutlicher erschien ein vierter Paul Auster, den ich den „liebenden Paul“ nennen möchte. Denn diesem „liebenden Paul“ widerfuhr, als er schon reichlich Enttäuschungen und eine Scheidung auf dem Buckel hatte, etwas Wunderbares, das er sich selbst in seinen eigenen Worten  so erzählte: „Im Licht deiner früheren Fehler, deiner Fehlurteile, deiner Unfähigkeit, dich selbst und andere zu verstehen, deiner impulsiven und unberechenbaren Entscheidungen, deiner Pfuscherei in Herzensangelegenheiten, scheint es verwunderlich, dass du seit so langer Zeit mit ein und derselben Frau verheiratet bist. Du hast versucht, hinter das Geheimnis dieser unerwarteten Wendung deines Schicksals zu kommen, ohne je eine Antwort finden zu können. Eines Abends bist du einer Fremden begegnet und hast dich in sie verliebt – und sie hat sich in dich verliebt. Du hattest das nicht verdient, du hattest es aber auch nicht nicht verdient. Es ist einfach passiert, und die einzige Erklärung dafür lautet: Es war ein Glücksfall.“  Das nenne ich ein happy-end: im herannahenden Alter unverdient mit einem Partner zu leben, den man als eine „zweite, bessere Version seiner Selbst“ erlebt. So trat am Ende des Buches zu den körperlichen, dem vergeistigen, dem liebenden und dem Paul auf der Meta-Ebene  der (4) „zufriedene Paul“ hinzu, der dem Leser weißmachen will, dass er mit sich im Reinen sei. Das glaube ich aber nicht, denn der „Winter“, den das Buch in seinem Titel führte,  hat für den noch recht rüstigen Autor noch gar nicht begonnen. Der (5) „alternde“ und der (6) „sterbende“ Paul wird wieder ein ganz anderer sein

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