Bökelmann: Die Gelben, die Schwarzen und die Weißen

Sobald Kleinkinder über ein bestimmtes Maß differenzierter Gesichtswahrnehmung verfügen, beginnen sie zu „fremdeln“. Diese Entwicklungsetappe, die die meisten Kleinkindern mit etwa acht Monaten erreichen, dokumentiert einen unbestreitbaren anthropologischen Befund: die Erfahrung des Unbekannten, des „Fremden“ wird als beunruhigend und bedrohlich empfunden. Nicht anders verhält es sich in sozialanthropologischer Sicht. Einander fremde Kollektive, seien es Verbände, Stämme oder Nationen, gehen zurückhaltend und vorsichtig, mitunter auch feindselig, miteinander um. Die  unterschiedlichen Rituale der Gastfreundschaft, die sich in fast allen menschlichen Gesellschaften nachweisen lassen, sind im Kern nichts anderes als ritualisierte Einhegungen potenzieller Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit).  Als „Distanziertheit mit einem leichten Oberton von Aversion“  beschrieb der deutsche Soziologe Georg Simmel 1908   das Grundgefühl der urbaner Fremdheit.  All diesen Befunden gemeinsam ist, dass Fremdheit als Gegenpart von Identität immer problematisch ist und nach individueller oder sozialstruktureller Bewältigung verlangt.

Einhundert Jahre später hat sich das Paradigma der Fremdheit allerdings vollkommen verwandelt. Während Europa und insbesondere Deutschland eine ungesteuerte und millionenfache Zuwanderung von Afrikanern und Orientalen erleben, ist der Gesellschaft der Begriff des Fremden abhandengekommen. Mehr noch: es wird von offizieller und tonangebender Seite geleugnet, dass es das „Fremde“ im traditionellen Sinne überhaupt gibt.

Dieser erstaunliche Sachverhalt steht im Zentrum der Neuauflage des Buches „Die Gelben, die Schwarzen, die Weissen“ des Publizisten Frank Bökelmann. Ursprünglich als eine kulturgeschichtliche Studie über die Fremdheit bereits 1995 in der „Anderen Bibliothek“ von Hans Magnus  Enzensberger veröffentlicht,  intendiert das Werk in seiner aktualisierten Neuauflage eine Analyse dieses Sachverhaltes und eine Rehabilitation  der Fremdheitserfahrung als Basis jeder Identität.

In den sechs kulturgeschichtlichen Kapiteln  beschäftigt sich Bökelmann zunächst mit der gegenseitgien Wahrnehmung von Kulturkreisen, die er der Einfachheit halber als „Weiße“, „Gelbe“ oder „Schwarze“ zusammenfasst, wobei er sich der Unschärfe dieser Kategorien durchaus bewusst bleibt. Wie der imposante Anmerkungsapparat beweist, greift der Autor hierbei tief in den Zettelkasten der vergleichenden Kulturanthropologie, so dass seine Ausführungen fast wie eine „Geschichte der Fremdheit“ gelesen werden können. Vom Europabild des mittelalterlichen China über die Ankunft der ersten Matrosen in Japan über afrikanische Ursprungsmythen bis zu den Fremdheitserfahrungen von Migranten in der westlichen Welt durchmisst das vorliegende Buche das ganze Gelände interkultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung zwischen Verunsicherung, Vorurteilen und Identitätswandel. Zusammen mit einer Reihe von Interviews, in denen Bökelmann die Wahrnehmung der „Weißen“ durch „Gelbe“ und „Schwarze“ untersucht, ergibt sich bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen immer das gleiche Ergebnis: die Wahrnehmung der Fremdheit ist ein Bestandteil der eigenen Identität.

Umso erstaunlicher erscheint die Destruktion des Fremdheitsbegriffes, den Bökelmann in Hinblick auf die jüngsten Massenzuwanderungen von Fremden nach Europa konstatiert. Fast in Schockstarre, so Bökelmann, flieht Europa  als „alternder Weltgeist“ angesichts der millionenfachen Flutung mit realer Fremdheit vor der Fremdheit, in es sie einfach leugnet oder uminterpretiert. Der „Trick“ dieser obrigkeitsstaatlich forcierten Ideologie besteht in der Umetikettierung des „Fremden“ in das „Ähnliche“, beziehungsweise das „noch nicht gleiche“, dessen bloßes So-Sein als „Bereicherung“ erfahren werden sollte.  Reale, schockierende Fremdheitserfahrungen werden als Projektionen eigener, dunkler, verdrängter, „rassistischer“, „fremdenfeindlicher“ Persönlichkeitsanteile wegpsychologisiert.  Beiden Manipulationsformen gemeinsam ist, dass die eigenen, europäischen  Werte inhaltlich zur Disposition gestellt werden, wobei allerdings erwartet wird, dass sich die „Anderen“ dem eigenen Eiapoppeia einer hysterischen Xenophilie („Fremdenliebe“) anschließen – und sei es auch nur deklamatorisch, wie man es immer wieder von Muslimverbänden erlebt.  „Vom Amt des Weltgeistes Abschied zu nehmen, fällt Europa schwer“, schreibt Bökelmann. „Den Abgang ins planetarische Altenteil vor Augen, sucht es sein Heil in einer Utopie der Gleichgültigkeit. Für eine diffuse, apolitische und kulturlose Vorstellung von Eintracht zwischen den Menschen ist man bereit, in wenigen Jahrzehnten das Erbe von hunderttausend Jahren hinzugeben.“

Weist dieses ideologische System durchaus wahnhafte Züge auf, sind seine Effekte durchaus real. Der Autor konstatiert einen gesamtgesellschaftlichen Neurotizismus, in dem für zunehmende Fremdheitserfahrungen keine tragfähigen Verständnismodelle mehr zur Verfügung stehen. Die derart propagandistisch deformierten Einheitsmenschen erfahren Fremdheit nur noch als diffuse „Vielfalt“, deren Pointe in der Steigerung des Selbsterlebens liegt. “Man schwelgt in Differenzen, die sich im allseitigen Austausch multiplizieren. Mehr Sprachen, Märchen und Emotionen. Mehr Frisuren und Kochrezepte. Buntere Musik und Mode Mehr von den wundervollen Gesichtern der cross culture people.“ Wie das alltägliche Leben in einer wirklich multikulturellen Gesellschafft funktionieren soll, kümmert die Ideologen nicht. Denn die Xenophilie ist abstrakt und offeriert im Unterschied zur Tradition keinerlei Hilfen für die Bewältigung der zahlreichen Wahlhandlungen, aus, aus denen der Alltag besteht. Ohne dass Bökelmann dieses Unwort erwähnt, steht die Horrorvision einer Gesellschaft im Raum in dem „die Menschen jeden Tag ihr Zusammenleben aufs Neue aushandeln“ müssen. Dass eine solche „Fremdheitsvergessenheit“ gegenüber intakten und kämpferischen Kulturen wie dem Islam, versagen muss, versteht sich von selbst.

Es gehört zu den Vorzügen des vorliegenden Buches, die ganze Abgedrehtheit der allseits propagierten Xenophilie klar zu benennen und die Komplementarität von Fremdheit und Identität überzeugend herauszuarbeiten. Wobei für den Autor die Entlarvung dieser politisch ins Werk gesetzten kollektiven Selbstentfremdung nur der erste Schritt zu einer Revitalisierung Europas sein darf. So wie die griechische Poleis ihre klassische Form erst nach der Abwehr der Perserangriffe fand, so könnte Europa gerade in der Abwehr der übergriffigen Xenophilie zu einer neuen Identität gelangen.  Diese neue europäische Identität nimmt Abschied von der größenwahnsinnigen, weltweiten „Allverantwortlichkeit“ der Gutmenschenkultur und beendet die „Begönnerung“ anderer, außereuropäischer  Kulturen. Denn gerade das alternde, sich selbst überschätzende Europa, so Bökelmann,  wird von diesen außereuropäischen Kulturen in diesem Jahrhundert noch Manches zu vergegenwärtigen haben.

 

 

 

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