Bundeskunsthalle Bonn: Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert

In der Bonner Kunsthalle erinnert eine Ausstellung an „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“

 Mit 14 Jahren las sie Kants „Kritik der reinen Vernunft“, mit 22 Jahren entwickelte sie in ihrer Dissertation über den „Liebesbegriff bei Augustin“ bereits einige der Grundbegriffe ihrer späteren Philosophie. Sie studierte bei Martin Heidegger, mit dem sie ein heimliches Liebesverhältnis unterhielt, Edmund Husserl und Karl Jaspers und verließ Deutschland nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Rede ist von der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt, die nach ihrer Flucht in die USA zu einer der einflussreichsten Gestalten in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts aufstieg. Einzelheiten ihres Lebenslaufes: hier!)

Anfang der Fünfziger Jahre verschaffte ihr das Tausendseitenwerk über „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ (1951) internationale Publizität. Antisemitismus und Imperialismus erschienen in diesem Buch als Wegbereiter für einen fundamentalen Irrweg der Moderne, der in zwei Spielarten der totalen Herrschaft mündete: dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Kernelement der totalen Herrschaft ist der Terror, der wie ein gefräßiger Moloch die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Hanna Arendts Erklärungsansätze streifen apokalyptische Dimensionen, wenn sie darauf hinweist, dass die absolute Weltlosigkeit, in die der totalitäre Terror den Menschen versetzt, ihm letztlich seiner Qualitäten als menschliches Wesen beraubt.

Diese anthologische Dimension wurde in ihrem Werk „Vita activa oder vom tätigen Leben“ (1958) vertieft. In diesem Werk unterscheidet Hannah drei Arten des  Tätigseins:  „Arbeiten“, „Herstellen“ und „Handeln“.  Unter „Arbeiten“ versteht sie eine aktive Weise des Weltverlustes im Modus der Mühe. Die Arbeit hat weder Anfang noch Ende und „kreist“ stattdessen immerwährend um die Imperative der Lebensnotdurft. Das „Herstellen“  ist eine „linear“ ablaufende Tätigkeit mit Anfang und Ende und unterliegt der Logik von  Zwecken und Mitteln. Das „Handeln“ dagegen ist die einzige Tätigkeit der vita activa, die sich ohne Materie und Material direkt zwischen Menschen abspielt. Ihre Grundbedingung ist die „Pluralität“ von Menschen im Medium der Öffentlichkeit. Ihr Wesenskern ist das „Anfangen“ unter Risiko und Unsicherheit, mit anderen Worten: das Erlebnis der Freiheit.  Ein so definiertes Handeln ist nicht jederzeit und überall möglich, sondern bedarf eines besonderen Erscheinungsraumes. Mit der Etablierung des ersten Raumes für  ein so verstandenes Handeln im Bereich der griechischen Polis war für Hannah Arendt die Geburt der Politik verbunden,

Ihr nächster großer Wurf „Über die Revolution“ (1963) fragte nach dem Niedergang dieses anspruchsvollen Politikbegriffs im Zuge der neuzeitlichen Revolutionen. Seine Perspektive verblüffte vor allem diejenigen, die bei der Rezeption des Werkes nicht den Begriffsapparat der „vita activa“ mitbedachten.  War in der antiken Polis der politische Bereich ein von der Privatheit abgegrenztes  „Überschussphänomen“, so stellten die radikalen Jakobiner in der französischen Revolution  die Verhältnisse auf den Kopf, indem sie die  private Not zum Thema der Politik erklärten. Robespierre  machte aus der Politik als dem „Reich der Freiheit“ einen Reparaturbetrieb gesellschaftlicher Not, der niemals zum Abschluss kommt, zur Hypertrophie neigt und in Despotie endet. Verräterisch erscheint der Autorin der Kategorienbruch, der darin bestand, dass die fehlgeleiteten Revolutionäre im Bereich des Handelns so agierten, als hätten sie es mit Zeck-Mittel-Relationen und Herstellungsprozessen zu tun.

Nur vor diesen Denkansätzen her ist Hannah Arendts Präferenz für das Rätesystem zu verstehen. Am Beispiel der ungarischen Revolution von 1956 lobt sie das Hervortreten freier Menschen, die öffentlich und unter Risiko in die die Belange des Gemeinwesens eingriffen, ehe sie vom Mahlstrom der Gewalt vernichtet wurden.

Man sieht, Hannah Arendt erzählte eine ganz andere Geschichte der „Politik“, die sich keinem der gängigen Lager zuordnen ließ. Umso größer war die Faszination ihres Werkes, die auch nach ihrem frühen Tod im Jahre 1975 nicht abebbte und zu zahlreichen Retrospektiven führte. Eine solche Retrospektive bietet die Ausstellung „Hannah Arendt und das  20. Jahrhundert, die im April und Mai 2021  in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen ist.

Um es gleich vorweg zu sagen: diese Ausstellung ist unbedingt sehenswert, wenngleich manche Exponate ohne Kenntnis des Arendt´schen Werkes ein wenig in der Schwebe bleiben.  Anhand plakativer Zitate an den Wänden, aufgeschlagenen Büchern unter Glas, Fotoreproduktionen und kurzen Fernsehsequenzen vermitteln die Kuratoren den Besuchern einen konzentrierten Überblick über Hannah Arendts Lebensstationen und Projekte – angefangen von den Kindheitszeugnissen bis zu großformatigen Bildern, auf denen ihre Freunde, Kollegen und Lebenspartner zu sehen sind. Ein besonderes Schmankerl ist den Ausstellungsmachern mit der Konzeption thematischer Nischen gelungen, die dem Besucher ermöglichen, sich in eine Wandnische zu setzen und sich per  Knopfdruck über die  Kontroversen im Leben der Autorin unterrichten zu lassen. Diese räumlich abgegrenzten, rein auditiven Präsentationen zu Zionismus, Auschwitz, totaler Herrschaft, den Eichmann Prozess, Rassismus und Feminismus und anderen Themenbereichen beruhen auf exzellent ausgewählten Originalzitaten, die in Form von Rede und Gegenrede daherkommen und manche Schneise in eingespielte Urteilsroutinen schlagen.  Bei der Debatte um die staatlicherseits erzwungene Rassenintegration in den USA besteht Hannah Arendt zum Beispiel darauf, dass man Menschen Diskriminierungen und Unterscheidungen im gesellschaftlichen Bereich nicht verbieten könne. Gleichheit bestehe nur im Bereich des Politischen, wozu aber Familie, Religion und Erziehung gerade nicht gehörten. Geradezu prophetisch mutet es an, wenn Hannah Arendt darauf hinweist, dass jede politisch erzwungene gesellschaftlicher Gleichheit  in Tyrannei enden muss.  Diversity-Regeln und Frauenquoten lassen grüßen.

Am überzeugendsten erscheint die auditive und visuelle Aufbereitung der Eichmann Kontroverse. die den frühen sechziger Jahren hohe Welle schlug. Hannah Arendt hatte den vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgespürten und nach Israel entführten Gruppenführer Adolf Eichmann als ein „armes Würstchen“ bezeichnet und das „Böse“, das er und die anderen mediokren Führergestalten des Nationalsozialismus repräsentierten, als „banal“  charakterisiert. Diese These von der „Banalität des Bösen“ wurde als Exkulpation nationalsozialistischen Unrechts missverstanden und heftig bekämpft – ebenso wie Hannah Arendts sehr harte Beurteilung der Rolle der sogenannten „Judenräte“ im Rahmen des nationalsozialistischen Völkermordes.  „Das Böse“, so schrieb Hannah Arendt an ihren Widerpart Gershom Scholem, „hat keine Tiefe. Es verwüstet die Welt wie der Pilz an der Oberfläche. Wirkliche Tiefe hat nur das Gute.“

Die Darstellung des Themenkomplexes „Totale Herrschaft“ ist misslungen.  Der politisch unkorrekten These, dass sich das nationalsozialistische und kommunistische Terrorsystem in vielfacher Hinsicht ähneln, weichen die Kuratoren einfach dadurch aus, dass sie sich auf den Imperialismus als einem Teilaspekt des Gesamtwerkes konzentrieren. Warum sich die Ausstellungsmacher dabei ausgerechnet auf ein missverständliches Joseph Conrad-Zitat über Schwarzafrikaner kaprizieren, wird das Geheimnis der Organisatoren bleiben, Wahrscheinlich wollten sie darstellen, dass sich selbst die große Hannah Arendt bei der Untersuchung imperialistischer Repression dem kolonialen Blick nicht entziehen konnte.

Kein Wunder, dass Hannah Arendt den radikalen Studenten der sechziger Jahre wenig Gegenliebe fand.  „Sie war für uns eine Rechte“, sagte Daniel Cohn-Bendit in einer Fernsehsequenz, während  Hannah Arendt, die mit seinen Eltern befreundet war, den jungen Daniel in einem Brief mit „Mein lieber Junge““ anredete.  Der „Radau“, die „Sprechchöre“ und die „theoretischen Sterilität“ namentlich der deutschen Studenten waren ihr trotzdem ein Gräuel, und es gehört wenig Fantasie dazu, sich ihr Urteil über die Cancel-Culture an heutigen Universitäten vorzustellen. Mit Feminismus hatte Hannah Arendt schon gar nichts am Hut. Zwei Frauenrechtlerinnen, die die prominente Autorin in den siebziger Jahren einluden, sagte sie ab mit dem Hinweis; dass sie über die Frauenfrage „noch nicht hirneichend nachgedacht habe und dass sie deswegen ihren Meinungen nicht trauen könne“. Auch eine Form der Zurückhaltung, die man manchem Talkshowteilnehmer ans Herz legen möchte

Berücksichtigt man die generellen Schwierigkeiten, intellektuelle Positionen museal  aufzubereiten und die Komplexität und Vielfältigkeit der Themen, mit denen sich Hannah Arendt ein Leben lang beschäftigte, dann ist den Kuratoren alles in allem ein erfolgreiches Projekt gelungen – auch deswegen, weil die Art der Materialpräsentation in typisch Ahrendt´scher Manier weniger bündige Antworten gibt, als das Denken simuliert.

Gerade deswegen fragt man sich aber auch, warum die kritische Potenz der Arendt´schen Begriffe so wenig aktualisiert wurde. Gerade weil Sprechen und Debattieren frei handelnder Menschen im Medium der Öffentlichkeit bei Hannah Arendt  die höchste Seinsweise der vita activa darstellen, repräsentiert das notorische Deplattforming und das Stigmatisieren abweichender Standpunkte durch die  kulturhegemonistische Linke einen absolute Tiefpunkt der politischen Kultur. Wäre das nicht auch ein Thema für eine Nischenpräsentation gewesen? Mach einem, der auf seinem hohen  Moralross daher geritten kommt und Andersdenkenden das Gespräch verweigert, möchte man mit Hannah Arendt ins Stammbuch schreiben, dass vermeintlich ewige moralische oder philosophische Wahrheiten auf dem Feld der menschlichen Pluralität zu bloßen Meinungen werden, die angehört und ausdiskutiert werden müssen.

Versöhnt wird der Besucher allerdings durch ein klassisches Hannah Arendt Zitat als Live-Sequenz, das jeden Besucher am Eingang erwartet und das er sich vor dem Verlassen der Ausstellung noch einmal anhören sollte. Es lautet: „Wir schlagen unseren Faden in ein Netz von Beziehungen. Was daraus werden wird, wissen wir nicht. Wir sind alle darauf angewiesen, zu sagen: Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Dieser Artikel erschien erstmals in leicht veränderter Fassung in der JF 16/2021

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