Ruhrkent

IMG_9354Die Migrationskrise ist die Stunde der Literatur, könnte man meinen. Wo existiert eine vergleichbare Gelegenheit, die aufbrechenden Konflikte in ihrer Gegensätzlichkeit literarisch aufzuarbeiten? Das ist leider nur in einem sehr eingeschränkten Rahmen richtig. Im offiziellen Literaturbetrieb dominieren Mainstream-Romane wie ‚Gehen, ging, gegangen‘ von Jenny Erpenbeck, gegen die ich nichts gesagt haben möchte, weil ich gut nachvollziehen kann, dass man mit einem politisch hyperkorrekten ‚Roman zur Krise‘ gut Kasse machen möchte. Schon eine ganz andere Hausnummer stellt Shimona Sinhas ‚Erschlagt die Armen‘ dar, auch wenn es der offiziösen Literaturrezeption gelungen ist, die Diskussion über dieses Buch vom Asylmissbrauch zum Feminismus zu verschieben. Gänzlich aus der Reihe der politisch korrekten und folglich medial popularisierten Beiträge fällt das vorliegende Buch von C.M mit dem bezeichnenden Titel ‚Ruhrkent‘. Sprachlich, inhaltlich und weltanschaulich steht es derart diametral gegen die offizielle ‚Flüchtlingsliteratur‘, dass es von den staatstragenden Medien von ZEIT bis taz einfach totgeschwiegen wurde. Grund genug, dieses Buch zu lesen.

Um mit dem Urteil gleich herauszurücken. Es war ein beeindruckendes, ein aufwühlendes Leseereignis, wie ich es in letzter Zeit nicht mehr erlebt habe. Hier betritt jemand thematisches Neuland in einer sprachlich anspruchsvollen Gestalt, die den Leser nach einer kurzen Gewöhnungszeit ergreift und bis zum Ende nicht mehr loslässt. Inhaltich handelt es sich um eine Dystopie, d. h. um eine „negative Utopie“, die bestimmte problematische Phänomene aus der Gegenwart bündelt und fortschreibt – allerdings ohne Hetze und Häme, mit leisen Tönen und aus der Perspektive eines geradezu exemplarischen Deutschen, der (fast) alles mit sich machen lässt. Wie bei Sinha beginnt der Roman mit einem Zwischenfall. Nicht dem, dass eine eingebürgerte Ausländerin einem Asylbewerber eine Flasche über den Kopf schlägt, sondern viel sachter: Der 76jährige Deutsche Henning Gerald Peters, der als Angehöriger der deutschen Minderheit im sogenannten Autonomiegebiet ‚Ruhrkent‘ (Ruhrgebiet) lebt, weigert sich bei der jährlichen Beantragung seiner Aufenthaltsgenehmigung in das notwendige Formular ‚Düskale‘, den neuen Namen seines Wohnorts Duisburg, einzutragen. Statt dessen schreibt er dreimal Duisburg in die Spalte, und das trotz mehrfacher Ermahnung. Er wird wegen Volksverhetzung angeklagt und wartet nun auf seine Verhandlung. Wir befinden uns irgendwo in naher Zukunft, wann genau, bleibt offen. Deutschland hat sich bis zu Unkenntlichkeit verändert, und ein Großteil des Romans beschäftigt sich damit, diese Veränderungen dem Leser in Gestalt innerer Monologe darzustellen. Die Verwandlung des Landes war langsam vonstatten gegangen, in ganz kleinen, IMG_9354scheinbar belanglosen Schritten, und ihre Bedeutung war immer erst im nachherein klargeworden – etwa die Wahl eines Bürgermeisters mit Migrationshintergrund, die Umwandlung von Kirchen in Moscheen, die Umbenennung von Straßen, die Entfernung von Sokrates und Plato aus dem Lehrplan, die Einführung von Straßenpatrouillen zur Wahrung der Sitten und getrennter Buslinien, bis schließlich in einem großen Festakt der grinsende Präsident der Republik erschien, die deutsche Flagge eingeholt und die grünblaugrüne Flagge des Autonomiegebietes hochgezogen wurde. Ob aus Heimatverbundenheit, Bequemlichkeit oder Selbstbetrug, jedenfalls hatte es der Protagonist versäumt, auf diese Veränderungen frühzeitig zu reagieren und Ruhrkent zu verlassen. Peters blieb in Düskale/Duisburg und musste erleben, wie der Wert seines Hauses ins Bodenlose fiel, seine Frau angepöbelt wurde, weil sie kein Kopftuch trug, und dass sein Sohn von einer Bande totgeschlagen wurde, ohne dass sich die Justiz bei der Aufklärung des Falles sonderlich ins Zeug gelegt hätte. Irgendwann war es dann plötzlich zu spät. Zu viele waren bereits da, um die Entwicklung noch aufzuhalten, ganz abgesehen davon, dass die Obrigkeit, assistiert von ‚Kirchenfürsten‘ ‚Dichtern‘ und Bänkelsängern‘ die Bevölkerung unablässig beschwichtigte und einlullte.

Zum Gerichtstermin begegnet Peters drei repräsentativen Gestalten des neuen Ruhrkent. Zuerst seinem Anwalt, einem jungen deutschen Zyniker, der seinen Mandanten einfach auffordert, vor Gericht zu lügen, um einer Strafe zu entgehen. Er ist der Typus des Migrationsgewinnlers, der um die miserablen Zustände in Ruhrkent durchaus weiß, sich aber gut ihnen eigerichtet hat, weil sie ihm ein auskömmliches Leben ermöglichen. Ein Schelm, dem hier die deutsche Asylindustrie einfällt. Als sich Peters weigert, dem Vorschlag des Anwaltes zu folgen, besucht ihn der Staatsanwalt. Sein Name ist Ismail, er ist ein gebildeter Migrant, der den Deutschen die Gerichtskantine zum Essen einlädt und ihm einen langen Vortrag über den eigenen Werdegang hält: über seine ursprüngliche Neugier auf die deutsche Kultur, die ‚erstaunlicherweise älter als zwölf Jahre‘ sei, und seine Verwunderung über die Feigheit und Selbstaufgabe der Deutschen, die der Besiedlung ihrer Heimat durch fremde Ethnien tatenlos zusahen. Der Staatsanwalt redet und redet, und erzählt dem immerfort schweigenden Peters schließlich das ‚Märchen von der Schildkröte‘. In diesem Märchen wird der ‚König von Kleinasien‘ von einer Schildkröte derart verhext, das er sein Volk nicht mehr mag, so dass er Millionen Mitteleuropäer auffordert, ins sein Land zu kommen. Und sie kommen. Zu Hunderttausenden gehen sie an Land, lassen sich nieder und werden aus den Reichtümern Kleinasiens unterhalten. Überall entstehen Kirchen, Jodlervereine und mitteleuropäische Städte, und der zaghafte Widerspruch der kleinasiatischen Ureinwohner wird von den Soldaten des Königs gnadenlos niederkartäscht.

Die dritte Gestalt, die dem Angeklagten begegnet, ist der Richter Abdul-Talib, ein distinguierter Endvierziger, der überhaupt keine Verhandlung führt, sondern in einer Art Kadi-Justiz sofort ein Urteil ausfertigt und Peters zur Unterschrift vorlegt. Als Peters Einwände erhebt, belehrt ihn der Richter über den wahren Charakter des Rechts, was als Beispiel für die Sprache des Buches aber auch für die Treffsicherheit der Diktion zitiert werden soll: ‚Das Recht (ist) keineswegs, wie Sie vielleicht erwarten mögen, eine hässliche, von altersstarrer Schwachsicht, schwarzen Schatten, Flimmern vor den Augen heimgesuchte, abgetakelte Justizia‘, beginnt der Richter. ‚Nein, ganz im Gegenteil: Das Recht ist eine blühend junge gertenschlanke Schönheit, die ihr hübsches Näschen voller Eitelkeit nach oben reckt und in Gesellschaft munter über innere und wahre Werte, Anstand und Sittsamkeit parliert, weil das bei Tische schicklich klingt. Doch wenn es ernst wird nach dem Tanz und sie, umworben und umgarnt von ihren Kavalieren, zur Entscheidung schreitet, lässt sie all die netten Burschen stehen, und, mit einem kecken Blick, wählt sie sich den Stärksten aus, mit dem sie auf sein Zimmer geht. Genauso folgt das Recht der Macht. Es lässt sich willig beugen, biegen und von den Mächtigsten gefügig machen, bis der nächste Kommt, es lässt sich treiben wie ein Flitchen, mal auf diesem, mal auf jenem Schoß.‘ Die jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen grüßen. Wie dem auch sei, Peters bleibt uneinsichtig, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Das Ende der Geschichte soll hier nicht verraten werden, aber dass sie nicht gut ausgeht, kann man sich vorstellen.

Soweit der Inhalt. Wie aber ist das Buch gelungen? Seine Stärke liegt zweifellos im Inhaltlichen. Es verdeutlicht einen denkbaren, wenngleich bizarren Endpunkt der europaweiten Massenmigration anhand eines konkreten Beispiels. Wem dieses Beispiel eines autonomen Migrantengebietes ‚Ruhrkent‘ abgedreht erscheint, der sei nur an die Äußerungen von Ulrike Guérot und Robert Menasse erinnert, die unter starkem Applaus der Mainstreammedien vorschlugen, auf Integration von Zuwanderern ganz zu verzichten und lieber die Gründung reiner Migrantenstädte neben den deutschen Großstädten anzustreben. Das ist nur ein Beispiel für die viele Übereinstimmungen gegenwärtiger Abartigkeiten mit der Tendenz des vorliegenden Buches, die geradezu frapierend sind. Eigentlich sind sie sogar noch frapierender geworden, seitdem das Buch erschienen ist. Oder wie soll man das Verhalten des ‚Kirchenfürsten‘ Woelki aus Köln bewerten, der das Licht des Doms ausschalten lässt, wenn auf dem Vorplatz Christen gegen die moslemische Zuwanderung protestieren oder der ein Flüchtlingsboot, aus dem möglicherweise Christen ins Meer gestoßen wurden, wie ein goldenes Zeitgeistkalb vor dem Altar des Kölner Doms aufstellen lässt? Oder das Verhalten einer Regierungschefin, die vor laufenden Kameras ausdrückt, dass Deutschland, wenn es sich gegen ihre Flüchtlingspolitik wende, nicht mehr ihr Land sei? Lauter reale Ungeheuerlichkeiten, die in ‚Ruhrkent‘ inhaltlich nur fortgesponnen werden.

Soweit so gut. Aber wie steht es mit der literarischen Qualität? Denn auch wenn man mit dem Inhalt eines Buches stark sympathisiert, entbindet das nicht von der altertümlichen Frage nach der ‚Kunst‘, d. h. der der Angemessenheit und dem Niveau der eingesetzten literarischen Mittel. Zunächst zur Sprache, deren eigentümlicher Rhythmus und deren Girlandensätze den Leser vor eine gewisse Herausforderung stellen. Hat man sich aber einmal an die Diktion gewöhnt, dann wirkt die Sprache über Seiten hinweg, als lese man ein Gedicht, was einen Lese-Sog erzeugt, dem man sich nur schwer entziehen kann. Ein ganz entscheidendes Problem des vorliegenden Buches besteht jedoch in seiner Gestaltung als lupenreiner Gedankenroman. Der zynische Anwalt, der redselige Ankläger, der Richter, die Freunde und Familienmitglieder der Hauptperson sind nichts weiter als Gedankenträger, die in mitunter grotesk langen Reden genau das sagen, was der Autor denkt. So kann man literarisch nicht verfahren, wenn man beansprucht, einen Roman vorzulegen, wird jeder Germanist mit Recht einwenden. Aber hat C. M. überhaupt einen Roman im traditionellen Sinne intendiert? Oder gleicht sein Buch nicht eher einer Parabel, um nicht zu sagen: einer dystopischen Fare, die in ihrer abstrakten Gestaltung am ehesten Voltaires Buch ‚Candide‘ vergleichbar ist, das ja auch als reiner Gedankenroman daherkommt, aber das, was es dem Leser mitteilen will, gerade in der Überspitzung hyperklar verdeutlicht?

Alles in allem handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um einen erstaunlichen Entwurf, der die Genregrenzen sprengt. Sogar als Gedankenroman hat C. M. ein lesenswertes Buch vorgelegt, lesenswert für alle, die die die derzeitig ablaufenden Völkerverschiebungen beunruhigen ‚ aber noch viel mehr für ‚Refugee Welcome Klatscher‘ und Flüchtlingsaktivisten, die es aber selbstverständlich nicht mit der Kneifzange anfassen werden.

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