Calic: Geschichte Jugoslawiens

Die Autorin, Professorin für südslawische Geschichte an der Universität München und seit ihrem Buch  „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“ eine anerkannte Expertin des Themas, fragt in der vorliegenden Buch nach den Ursprüngen, den  Existenzgrundlagen  und dem Untergang Jugoslawiens.  Auch wenn man bei einzelnen Fragestellungen wie etwa der Kriegsschuld Serbiens in der Juli Krise 1914 anderer Ansicht sein mag als die Autorin, ist der Gesamtentwurf des Buches von imponierender Überzeugungskraft und Geschlossenheit.

Das Buch beginnt mit einem Abriss der fragilen politischen Situation Südosteuropas am Beginn des 20. Jahrhunderts. Es folgen die Balkankriege, die als eine bestialische Ouvertüre aller Gräuel dargestellt werden, die das 20. Jahrhundert noch bereithalten sollte. Nach dem zweiten Balkankrieg hatte sich Serbien als Hegemonialmacht der Region etabliert und erfuhr eine immense Steigerung seines nationalen Selbstbewusstseins. Sein Territorium vergrößerte sich mit Vardar-Makedonien, Kosovo und Sandžak um 81 Prozent, seine Bevölkerung um fast die Hälfte auf rund 4,3 Millionen. Belgrad hatte einen grandiosen militärischen Triumph errungen und das historisch und emotional bedeutsame Altserbien, das Zentrum des mittelalterlichen Großserbiens,  zurückgewonnen. Interessant zur Bewertung des späteren Kososvokrieges ist, dass Serbien nach seiner Besetzung des Kosovo noch vor dem ersten Weltkrieg Albaner vertrieb und 12.000 serbische Familien ansiedelte. Es bestand also schon am Beginn des 20. Jhdt. von serbischer Seite aus der Wunsch, den demografischen Verlust des Amselfeldes rückgängig zu machen.

Das nach dem ersten Weltkrieg etablierte „Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben“ krankte vom Anfang an an Konflikten mit den Nachbarstaaten, aber auch an Aversionen zwischen den Ethnien, von denen sich Albaner, Montenegriner und Makedonen nicht repräsentiert fühlen –  außerdem herrschte ein Widerstreit zwischen Zentralisten (Serbien) und Föderalisten (Kroaten), der zur ersten Verfassungskrise führte. In den Zwanziger Jahren kam es zwar zu einer stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung, trotzdem herrschte aufgrund der demografischen Zuwächse Massenelend, je mehr, je weiter nach Süden man kam.  Kennzeichnend für die Radikalität der Gegensätze war der berüchtigte Auftritt von Punisha Racic, der in  der Parlamentssitzung am 20. Juni 1928 den Führer der nationalen Bauernpartei Pavel Radic erschoss. Auf die Ermordung des Bauernführers folgte der Staatsstreich König Alexanders I und die Ausrufung einer Königsdiktatur. 1934 wurde Alexander I bei einem Staatsbesuch in Frankreich zusammen mit dem französischen Außenminister erschossen (Interessanterweise verdächtigt die Autorin Italien als Drahtzieher des Attentates, während sie beim Sarajevo-Attentat, in das Serbien viel stärker involviert war, die serbische Regierung von jeder Schuld freispricht)

Das semi-autoritäre Regime Ministerpräsident Stojadinovićs ab der Mitte der Dreißiger Jahre wurde aber weder der inneren noch der äußeren Problem Herr. Schon damals entstand mit der „Ustascha-Bewegung“ unter Ante Pavelic  eine radikale kroatische Bewegung, die unverhohlen ein Großkroatien forderte – konterkariert durch die nicht weniger radikale serbische Gruppierung „Zbor“. Erstaunlich viel Zuspruch erfuhren die Kommunisten, die sich für eine Föderation der Nationen und soziale Emanzipation aussprachen. Sie fanden großen Anklang bei den  Dorfschullehrern, deren propagandistische Tätigkeit kaum überschätzt werden konnte, bei Landarbeitern, die sich zwischen Stadt und Land hin und her bewegten, und wie überall beim urbanen intellektuellen Prekariat. Ihr maßgeblicher Protagonist war  Josef Broz „Tito“, Spross einer slowenisch-kroatischen „Mischehe“, der als KP Aktivist fünf Jahre im jugoslawischen Gefängnis saß, ehe er zum Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen nach Moskau ging, aber wohlbehalten zurückkehrte, um 1937 zum Generalsekretär der Partei gewählt zu werden. Zu seinem engsten Kreis gehörten der Montenegriner Milovan Djilas, der Serbe Aleksandar Ranković und der Slowene Edvard Kardelj, die späteren Architekten des zweiten Jugoslawien.

Zagreb

Außenpolitisch waren die späten dreißiger Jahre geprägt durch die zunehmende Dominanz Deutschlands im südosteuropäischen Raum.  Österreich wurde „angeschlossen“, die Tschechoslowakei zerschlagen, Jugoslawien wurde wirtschaftlich von Deutschland abhängig, das 1939 bereits 45 % der jugoslawischen Exporte abnahm. Im Zuge der unsicheren Lage wird 1939 ein „serbisch-kroatischen Ausgleich“, das  „Sporazum-Abkommen“ erzwungen. Es etablierte erstmalig ein autonomes kroatisches Verwaltungsgebiet innerhalb Jugoslawiens mit der Hauptstadt Zagreb. Die sogenannte Banovina (Banschaft) umfasste große Teile Kroatiens, Dalmatiens und Bosnien-Herzegowinas mit einer Bevölkerung von vier Millionen, die auch Serben und Bosnier umfasste. Diese Ausgleich aber beruhigt die Lage nicht, weil die anderen Nationalitäten sofort ähnliche Rechte fordern.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges  überstürzten sich dann die Ereignisse. Das faschistische Italien griff  Griechenland an und erlitt erhebliche Schlappen, so dass Deutschland intervenieren musste. Jugoslawien wurde zum Beitritt ins nationalsozialistische Lager praktisch gezwungen, woraufhin es zu einem Staatsstreich gegen den Prinzregenten kam. Am 27. März 1941 übernahmen serbische Generäle in einem unblutigen Staatsstreich die Regierung und hievten den minderjährigen König Peter II. auf den Thron.  Nach diesem Politikwechsel ließ Hitler alle Verstellung fallen und befahl den Angriff.  Ohne Vorankündigung begannen in den frühen Morgenstunden des 6. April 1941 611 deutsche Flugzeuge, die schutzlose jugoslawische Hauptstadt zu bombardieren, die zuvor vergeblich zur «offenen Stadt erklärt worden war. 9000 Häuser wurden zerstört, 3000 Menschen getötet. Die deutsche Armee überrannte anschließend Jugoslawien und zerschlug im Schulterschluss mit Italien das Land. Italien erhielt große Teile Dalmatiens und aks „Schutzmacht“ ganz Albanien. Da die Albaner nun zum ersten Mal in einem Staat vereinigt waren (und sei es auch ein Vasallenstaat Italiens) , unterstützten die Albaner die  Italiener und beteiligten sich nicht am Partisanenkrieg gegen die Besatzungsmächte. 200.000 Slowenen wurden aus dem Raum Laibach und Marburg vertrieben. In Kroatien entstand der „Ustascha Staat“ unter Ante Pavelic und beging schreckliche Verbrechen an serbischen Minderheiten. Serbische Tschetniks unter dem Kommando von Dragoljub Mihailović  schlugen zurück und kämpften für ein konservatives monarchistisches Großserbien (1946 wurde Mihailović hingerichtet, 2015 vom obersten Gericht in Serbien in einem äußert umstrittenen Urteil posthum  rehabilitiert)

Ein Kampf aller gegen alle setzte ein, dem im Laufe des Krieges über eine Million Menschen zum Opfer faieen, davon eine viertel Million Kroaten und eine halbe Million Serben. Im Verlauf dieser Kämpfe wurden die kommunistischen Partisanen immer stärker, nicht nur, weil ihr Programm des nationalen Ausgleichs und der sozialen Emanzipation überzeugend war, sondern  auch, weil viele vor dem Terror der Serben und Kroaten einfach zu den Kommunisten flohen.

Vor dem Hintergrund dieses vierjährigen südserbischen Gesamtmassakers  muss die Rolle Titos möglicherweise neu bewertet werden. Seine kommunistische Partisanenarmee unterschied  sich, was den Massenterror betraf, kaum von Ustascha und Tschetniks. wohl aber im Hinblick auf die positive Vision, die sie hatte, die da waren:  (1) ein Ende der Fremdherrschaft, (2) die gleichberechtigte Versöhnung der südslawischen Völker und (3)  soziale Emanzipation.  Sah man einmal von den Verbrechen ab, die bei der Gründung Jugoslawiens 1945 begangen wurden meint die Autorin, dass der sozialistisch- jugoslawische Staat diese drei Ziele in all der Begrenztheit, die menschliches Handeln prägt, wenigstens eine Zeitlang ansatzweise erreicht hatte. Nach Meinung der Autorin war das das Verdient von Tito, der das Land mit Charisma,  Autorität und Geschick regierte.

Wirtschaftlich war das erste Jahrzehnt des sozialistischen  Jugoslawiens von stürmischem Wachstums geprägt. Allerdings zeigte die viel gelobte  „Arbeiterselbstverwaltung“ bald ihre Nachteile, da es die Arbeiter  vorzogen,  den erwirtschafteten Mehrwert in den eigenen Konsum und nicht in Investitionen zu stecken.   1965 beseitigte der Staat trotzdem die staatliche Kontrolle von Produktion, Preisen und Löhnen sowie die staatlichen Investitions- und Subventionsfonds. Das jugoslawische System sollte jetzt nach den Gesetzen des Kapitalismus funktionieren.  Diese Reform misslang jedoch,  weil die jugoslawischen Firmen technologisch immer weiter zurückfielen. Auch die internen Disparitäten zwischen den Teilrepubliken wurden immer größer. 1965 schafften die ärmeren Länder Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Montenegro und Kosovo nur noch 64,4 Prozent des jugoslawischen Pro-Kopf-Einkommens gegenüber 71,3 Prozent zehn Jahre zuvor. An der Spitze der Wohlstandstabelle lag Slowenien mit einem Indexwert von 177,3 (Jugoslawien = 100). Kroatien erreichte 120,7 und Serbien 94,9. Demgegenüber lag Bosnien-Herzegowina nur bei 69,1 und Kosovo 38,6 bei Punkten. Umfangreiche Ressourcentransfers in den Süden schufen viel böses Blut und im Süden.

Erbeutetes Kriegsgerät der  Nato in      der Zitadelle von Belgrad

Nach Titos 1980 Tod brachen die lange unterdrückten Gegensätze mit Macht wieder auf, die Feindseligkeiten zwischen den Teilrepubliken nahmen zu.  (Detail: es gab im Durchschnitt nur 12 % zwischenethnische „Mischehen, am meisten zwischen Serben und Kroaten, am wenigsten zwischen Serben und Albanern – in den USA liegt dieser Wert zum Beispiel bei 17% aller neu geschlossenen Ehen).     Eine beispiellose Re-Historisierung setzte ein.  Weit über das notwendige Ausmaß von Kritik hinaus wurden geschichtliche Rekonstruktionen allein nach den Interessenlagen in der Gegenwart gestaltet. Neue Nationalismus, neue Gläubigkeit und neue massenmediale Pluralität trugen das ihre dazu bei,  noch im letzten Jahrzehnt des jugoslawischen Staates das Feld für die Gemetzel der folgenden Balkankriege vorzubereiten.

Nach den Balkankriege der Neunziger Jahre, die Jugoslawien endgültig in den Orkus der Geschichte beförderten, ist Titos Bild verblasst. Zweifellos hatte er bei der Gründung des sozialistiscchen Jugolsawiens Verbrechen begangen, aber er hatte doch bacg Neinung der Autorin  im Rahmen des Möglichen mit allen fehlbaren Mitteln den Südslawen  zwei Generationen lang Frieden beschert. Dass er aus einem Mausoleum geworfen wurde und dass seine sterblichen Überreste heute fast unbeachtet, in irgendeinem Park in Serbien liegen, hat er nach Calic nicht verdient.

Am Ende geht die Autorin noch einmal sehr intensiv auf die Balkankriege ein, weil sie die ungelösten Probleme der Region wie in einem Brennglas bündeln. Im Grunde sind drei Kriegskomplexe innerhalb dieser Prozesse unterscheidbar: (1) Die kurzen Sezessionskriege, in denen  die serbische Armee vergeblich versuchte, den Abfall der andern Teilrepubliken zu verhindern, (2) der Bosnien-Herzegowina Konflikt mit seinen Exzessen in Srebenica und Sarajewo und (3) der Kosovokonflikt.

Die Opfer waren ungeheuer und zeigten einmal mehr, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. In Bosnien Herzegowina waren 100.000 Menschen  im Krieg getötet und  mehr als zwei Millionen vertrieben worden. Auch nach dem „Frieden“ hatten die Eliten  ihre ursprünglichen Kriegsziele 1995 keineswegs aufgegeben, sondern nur vorübergehend hintangestellt. Ethnisch, politisch, institutionell und mental ist Bosnien tief gespalten.

Im Kosovokonflikt wurden 800.000 Menschen vertrieben.  Erst drei Monate nach Beginn des Luftkrieges der NATO gegen Serbien stimmte Belgrad im Juni 1999 zu, Kosovo mittels einer UN-Resolution in ein internationales Protektorat zu verwandeln. Geschaffen hatte man damit nur einen neuen Pseudostaat mit einer hochkriminellen Regierung. Inzwischen streben alle Staaten in die Europäische Union, von der man materielle Unterstützung und nationalen Ausgleich auf dem Südbalkan erwartet. Fraglich, ob durch einen Beitritt der Südbalkanstaaten nicht die Problemlösungskompetenz der EU endgültig überschritten wird und die EU zusammenbricht.

Am Ende des Buches ist es dann wie am Anfang. Es gibt kein Jugoslawien (noch nicht oder nicht mehr) und dass es jemals wiederkehrt, ist mehr als unwahrscheinlich. Dafür sind die Erinnerungen an die Massaker noch zu frisch. Außerdem wartet der nächste Konflikt bereits im südwestlichen Balkan, wo in Bosnien und Albanien  der Islamismus Fuß gefasst hat und die Menschen aufwiegelt. Oder, um es kurz mit den Worten eines serbischen Intelektuellen zu sagen, den die Autorin am Ende ihres Buches zitiert:“Nichts ist, wie es einmal war Und nichts ist anders.“

 

 

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