Canetti: Die gerettete Zunge

Es gibt unendlich viele Arten von Biografien, aber sie lassen sich auf einem Kontinuum mit zwei Extrempolen einordnen:  auf dem einen Extrempol sammeln sich Biograpfien, in denen Zufälligkeiten, Pikanterien und Peinlichkeiten zur Schau gestellt werden und deren einziger Sinn darin besteht, bei scheinbar Prominenten durch das Schlüsselloch zu blicken. Dieter Bohlen lässt grüssen. Biografien am entgegengesetzten Extrempol machen den Leser zum Zeugen einer Geburt, der Entfaltung einer fremden Welt, die sich im Laufe der Lektüre  fast ein wenig in die eigene Wirklichkeit verwandelt.  Wenn eine Biografie der zweiten Art auch noch in einer poetischen Sprache voller Wärme und Musik verfaßt wurde, dann hat man eine Kurzbeschreibung des vorliegenden Buches. Rutschuk/Rumänien, Manchester/England, Wien/Österreich-Ungarn und Zürich in der Schweiz sind die vier Etappen, in denen sich die Entwicklung des jungen Elias Canetti vollzieht, ein geistiger Werdegang vor der Kulisse Alteuropas, eine Initiation in eine Welt neuer  Literatur, neuer Erfindungen oder in die Psychologie der Menschen, denen der junge Elias begegnet. Seien es der gefürchtete Onkel-Oger aus Manchester, der Herr Dozent aus Wien, der schrecklicherweise die Mutter zu heiraten droht, seien es Spielkameraden, Mitschüler, Prominente oder Hausangestellte, keine Figur erscheint dem Autor zu gering, um ihr nicht ein liebevolles literarisches Portrait zu gönnen. Das Detail kommt in diesem Buch nicht nur zu seinem Recht sondern auch zur Sprache, ohne dass die Erzählung auch nur eine Seite langweilig wäre. Jeder Vater sollte lesen, was Canetti über seinen Vater schreibt, jeder Lehrer sollte sich durchlesen, welchem Panoptikum von Schulmeistern der kleine Canetti in seinen Unterrichtsstunden begegnete und sich fragen, an welchem Platz in diesem Universum er  sich selbst befindet. Keine Seite, die dergleichen Fragen, die den Leser betreffen, nicht aufwürfe. Nicht zuletzt deswegen handelt es sich um ein zeitloses Werk, das man nur aus der Hand legt, um sich sogleich der Fortsetzung ( „Die Fackel im Ohr“ ) zuzuwenden.

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