Collier/Kay: Das Ende der Gier

In einem der bekanntesten Filmszenen der jüngeren Filmgeschichte hält Michael Douglas als  Wallstreet-Händler Gordon Gecko eine Laudatio auf die Gier. „Die Gier ist gut“, verkündet der Finsterling auf einer Hauptversammlung, „die Gier ist gut, denn sie klärt die Dinge.“ Diese Filmsequenz galt lange Zeit als szenisches Konzentrat des neoliberalen Zeitalters, als das Credo eines Egomanen, der sich offen zu seinen Elenbogen und zu seinem Ehrgeiz bekennt. Paul Collier und John Kay, die diese Szene in ihrem Buch „Das Ende der Gier“ ausdrücklich zitieren, aber sind anderer Meinung. Für sie ist die Gier  nicht die Lösung, sondern das Problem.

Für Paul Collier, bekannt geworden durch seinen einwanderungskritisches Buch „Exodus. Wie wir Einwanderung neu regeln müssen“ (2013) und den Wirtschaftswissenschaftler John Kay befinden sich die westlichen Gesellschaften in einer tiefgreifenden Krise, die sie unter dem Oberbegriff der „Gier“ subsummieren. Den Kern dieser Gier beschreiben sie wie folgt: „Den exzessiven finanziellen Forderungen von Managern und den Ansprüchen der Identitätspolitik, dem selbstgefälligen Gehabe von Trump, Putin, Bolsonaro und Kim Jong-un und dem wachsenden Einfluss von Reality-TV Stars und Influencer_innen ist ein zentrales Merkmal gemein: Es dreht sich immer alles um sie selbst.“  Es geht also nicht  nur um die Gier nach Geld, sondern auch um die Gier nach Anerkennung und Macht. Sodann ist diese Gier keine Frage von links oder rechts, sondern sie betrifft alle politischen Lager. Zwischen dem rechten Rabauken, der mit einem Büffelkopf durch das Kapitol läuft und  einem linken Aktivisten, der Denkmäler schändet , erkennen die Autoren keinen wirklichen Unterschied. Kapitol- und Denkmalstürmern, Klimaaktivisten und radikale Feministinnen geht es in erster Linie um „Performance“, um die Gier nach authentischem Selbsterleben und moralischer Selbsterhöhung vor den Augen Gleichgesinnter.

Donnerwetter, denkt der Leser, man hatte  schon immer geahnt, dass mit den Klimahüpfern und den Extensio Rebells etwas nicht stimmt, aber so klar hat noch niemand aus dem etablierten  Wissenschaftsbetrieb den Kern der Dinge auf den Punkt gebracht.  Egoistischer Raubtierkapitaismus und tribalistische Identitätspolitik gefährden beide die apative Kompromissfähigkeit demokratischer Gesellschaften. Die Gier  nach theatralischer Anerkennung ist als Massenphänomen genauso toxisch wie die Gier nach Geld oder Macht.

Aber auch der Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt bekommt sein Fett weg, und das, obwohl er in der Perspektive der Autoren nichts weiter ist als ein kümmerlicher Leviathan, der seine Kernaufgaben  – Wohlfahrt und Sicherheit – nur noch unzureichend erfüllt. Stattdessen arbeitet er sich an zwei Zielen ab, die das politische System in eine Sackgasse führen: der Steigerung des BIP als trügerischem Maßstab für die allgemeine Wohlfahrt  und einem deklamatorischen „Weltenretterethos“, dessen praktische Konsequenzen die Gesellschaft weiter spalten. Weit entfernt von dem sinnfreien Bereicherungsnarrativ der „No-Border“-Gruppen weisen sie daraufhin, dass zu starke und zu schnelle Zuwanderung  das kostbarste Kapital gefährdet, das eine Gesellschaft besitzt: gegenseitige Vertrautheit und Solidarität. Linke Partien, die diese Probleme – mit Ausnahme der dänischen Sozialdemokratie-  konsequent ignorieren, unterliegen einem galoppierenden Wählerschwund.

Der dritte Teil des vorliegenden Buches skizzieren Collier und Kay die Strukturen einer besser funktionierenden und humaneren Gesellschaft. Ihre Argumentation orientiert sich an der politischen Philosophie des Kommunitarismus, den die Autoren beschreiben wie ein Brevier des gesunden Menschenverstandes. In der Nachfolge von Aristoteles und Adam Smith bestimmen sie den  Menschen als ein soziales  Wesen, das sich in der Kooperation mit anderen und im tugendhaften Leben erfüllt. Meinungsoffen, überschaubar und gesprächsbereit sollen die dezentralen zivilgesellschaftlichen Netzwerke sein, aus denen sich die Gesellschaft wie aus unendlich vielen Modulen zusammensetzt. Politische Führer, die diese Netzwerke koordinieren und schützen, sind „prosozial“,  „großzügig“, „kooperativ“, „bescheiden“ und „selbstironisch“, gewissermaßen eine Mischung aus Perikles und Augustus mit einem Schuss Thomas Gottschalk.  Aus vielfach bezeugter Solidarität während der Corona-Pandemie schöpfen die Autoren schließlich die Hoffnung, dass der Mensch nicht nur „ein krummes Holz“ (Kant) sondern ein zum Gutsein befähigtes Wesen ist, wenn man ihm nur oft genug erzählt, dass ihm das Gutssein langfristig gut tun wird.

So bleibt am Ende der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl. Die Diagnose der Gesellschaft in den beiden ersten Buchteilen ist mit großem Gewinn zu lesen. Die therapeutischen Vorschläge im dritten Teil aber haben etwas Naives, wenn man unter Naivität das verstehen will, was selbstverständlich ist, ohne dass sich die meisten daran halten. Insofern ähneln die Vorschläge der Autoren einer anspruchsvollen Sonntagspredigt, die die richtigen Ziele weist, ohne den Weg dorthin wirklich zu beschreiben.

 

 

 

 

 

 

 

 

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