Cronin: Napoleon

Cronin NapoleinMitunter liebt es die Geschichte, sich in einem Menschen zu verdichten, hat Joachim Fest gesagt, (oder war es Goethe?) und für kaum einen Menschen trifft diese Sentenz mehr zu als für Napoleon Bonaparte, den Beweger der Welt, ohne dessen Wirken die neuere europäische Geschichte nicht verstanden werden kann. Die Versöhnung von Revolution und Tradition, die Entstehung des Nationalismus, die Geburt des bürgerlichen Gesetzbuches, ja, selbst die Freiheit der lateinamerikanischen Staaten und die Modernisierungsbewegung in der arabischen Welt gehen auf den General, Konsul und Kaiser der Franzosen zurück. Wie ein Komet erschien er am Horizont der Geschichte, stieg höher empor als jeder Mensch vor ihm, um dann aber auch ebenso tief zu stürzen. Innerhalb weniger Jahre verlor er zunächst die Kriege, dann den Thron, schließlich auch noch Frau und Kind und am Ende sein Leben auf einer abgelegenen Insel im Südatlantik.
43Vincent Cronin hat es gewagt, dieses epochale Leben von der Geburt Napoleons am 15. August 1769 bis zum schrecklichen Krebstod auf St. Helena am 5. Mai 1821 auf knapp 500 Seiten zu beschreiben. Den Militärstipendiaten in den letzten Jahren des Ancien Regime, den Zeugen des Tuillerienmassakers vom August 1792 und Bonapartes militärisches Coming-out bei den Kämpfen von Toulon 1793, seinen Kartätscheneinsatz im Straßenkampf gegen die Royalisten 1795, die Siege des blutjungen Generals in Italien 1796/7, das ägyptische Abenteuer und die Machtergreifung des Jahres 1799 beschreiben die ersten zehn Kapitel des vorliegenden Buches wie einen Abenteuerroman. Es folgt die Schilderung des Herrschers Napoleon, der zuerst als Konsul, dann als Kaiser den Frieden mit der Kirche schließt, die Staatsfinanzen und das Schulwesen reorganisiert, die alten Eliten zurückruft und die Errungenschaften der Revolution exportiert (Kapitel 11-19). Mit dem „Weg nach Moskau“ beginnt der Abstieg: der Untergang der Großen Armee, die 61Völkerschlacht von Leipzig, das erste Exil in Elba, die Hundert Tage und das Ende auf St. Helena erscheinen dabei wie ein bitterer Kontrapunkt zu der strahlenden Heldengeschichte des napoleonischen Aufstiegs (Kapitel 20-27).
Insgesamt wird man zugeben müssen, dass Cronin den immensen Stoff ungemein unterhaltsam erzählt. Persönliches und Allgemeines, Kurioses und Poetisches ergeben genau die Mixtur, die der geschichtlich interessierte Laie zu schätzen weiß. Niemals in einer Komödie hinsetzen, fordert Napoleon, denn wenn sich ein Schauspieler in einer Komödie hinsetzt, wird das Stück sofort zur Komödie. Zur Lösung des Rassenproblems empfiehlt der Exilant von St. Helena die Heirat eines Mannes mit je einer weißen und einer farbigen Frau, deren Sprösslinge dann in einer gemeinsamen multikulturellen Kinderstube aufwachsen könnten. Allerdings gilt auch: „Romane, insbesondere die von Frauen geschriebenen, verzerren die Wirklichkeit, denn dort wird der Liebe ein zu großer Platz eingeräumt“(S. 461). Es sind nicht zuletzt dergleichen über die ganze Biographie verteilten Dönekens, die den Leser unterhalten und zum Schmunzeln bringen.
Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass Napoleon für Cronin als 66Lichtgestalt erscheint, als der Verbreiter von Liberalität und Menschenrechten, der nur durch die perfiden Umtriebe der Engländer an einem dauerhaften Friedenschluss gehindert wurde. Sicher, Napoleon konnte durchaus ausrasten, seine Untergebenen ohrfeigen und die Gesandten anbrüllen, aber nur um sich am nächsten Tag um so rührender um sie zu kümmern. Dass er den Herzog von Enghien entführen und hinrichten ließ, muss man verstehen, denn trachteten nicht zugleich auch die bourbonischen Schergen ihm selbst nach dem Leben? Auch der Feldzug nach Russland, der Anfang vom Ende, erscheint in der Darstellung Cronins als unausweichlich, denn die humanen Errungenschaften des Empires wurden durch die Expansionsgelüste des russischen Autokratismus in ihrem Kernbestand bedroht. Man sieht, nicht jeder, der Napoleons Verdienste um die Konsolidierung Frankreiches zwischen 1799 bis 1804 anerkennt, wird diesen Urteilen folgen mögen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schattenseiten des napoleonischen Empire fast vollständig unter den Tisch des Biographen fallen: etwa die erheblichen menschlichen und materiellen Kontributionen, die die abhängigen Gebiete an das Kaiserreich zu entrichten hatten, die Misswirtschaft der Napoleoniden und das völlige Unverständnis gegenüber dem Freiheitsdrang der unterworfenen Völker, das Napoleon schließlich zu Fall brachte. Wenn man es genau betrachtet, werden auch den Mitspielern in diesem großen Menschheitsdrama, etwa Kaiser Franz I, König Friedrich Wilhelm III und Königin Marie Louise, Zar Alexander I , den englischen Regierungschefs, Metternich und allen anderen immer nur Statistenrollen zugeteilt, so dass ihr Handeln meist als treulos und bösartig aber nicht als nachvollziehbar und interessengeleitet erscheint. Das ist ein recht hoher Preis, den der Biograph für die möglichst plastische Präsentation seiner Hauptfigur entrichtet hat.

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