Das aktuelle Buch April 2020 – Alexander Grau: Politischer Kitsch

Der Kitsch gehört zu den Schlüsselphänomen unserer Epoche. In seinen verschiedenen Erscheinungsformen hat er sich zu einem  moralisch aufgeblähten Kommunikationsmedium  entwickelt, dessen Verbreitung den politischen Diskurs zerstört.  Omas kämpfen gegen rechts, Schulschwänzer hüpfen für den Frieden,   ohne  sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Wie ist das möglich, und wie hat es soweit kommen können? Alexander Grau versucht in dem vorliegenden Buch „Politischer Kitsch“  diese Fragen zu beantworten

Es kennzeichnet den systematischen Ansatz des Buches, dass der Autor die offensichtliche Verkitschung der Gesellschaft nicht einfach auf die Bösartigkeit ihrer Schöpfer oder die Dummheit der Rezipienten zurückführt. Kitsch entsteht vielmehr aus der Dualität des menschlichen Weltzugangs, d. h. aus der Spannung von Rationalität und Emotionalität und dem Wunsch nach einfachen, „ganzheitlichen“ Antworten auf die Herausforderungen einer unübersichtlichen Realität.  Kitsch ist  eine Art Unkraut auf der großen Wiese der Sinngebung und besitzt als Kitischbedürfnis eine starke Affinität zur Religion.

Diesen anthropologischen Denkansatz vertieft der Autor in einer kleinen Kulturgeschichte des Kitsches, die zu den anregendsten Teilen des Buches gehört. Im Unterschied zur brutal realistischen  Antike erweist sich die frühchristliche Trennung von  diesseitiger und jenseitiger Welt als durchaus kitschanfällig, weil sie in der Gefahr steht, die Realitätsbezüge  zu übertünchen. Diese mögliche Fehlentwicklung sein jedoch, so Grau, durch die Präsenz des diesseitigen Opfertodes Jesu bis in die europäischen Neuzeit hinein vermieden worden. Erst mit dem Protestantismus  und insbesondere mit dem Pietismus  erfährt die Kitschgefährdung des Christentums einen gewaltigen Schub:„So versenkt sich die pietistische Frömmigkeit schwärmerisch in die eigene Schwärmerei. Entsprechend mutiert unter pietistischen Vorzeichen der christliche Glaube zu enthusiastischer Sentimentalität und der Protestantismus zu antiintellektueller Gefühligkeit.“

Von dieser Art der Frömmigkeit ist es für den Autor nur ein kurzer Weg zur Romantik, die die Kunst und den verinnerlichten Kunstgenuss in den Rang der Religion erhebt.  Das Bürgertum, eingeklemmt zwischen dem in der Vergangenheit  fundierten Adel und dem auf die Zukunft hin ausgerichteten Proletariat flüchtet sich die Verklärung der Gegenwart. Der romantische  Moment der Selbstergriffenheit wird zur Quelle des  sogenannten „kitschigen Bewusstseins“, das die Welt nicht nur emotional verklärt, sondern sich wie ein säkularisierter Pietist an dieser Verklärung auch noch berauscht.  Der auf diese Weise aufgeblähte Kitsch als  Schwundform des öffentlichen Bewusstseins expandiert und greift  auf andere Lebensbereiche wie Liebe, Naturerleben, Ethik und Politik über.

                     Fest des höchsten Wesens

Als Geburtsstunde des politischen Kitsches identifiziert  Grau das „Fest des höchsten Wesens“ am 8. Juni 1794. Maximilian Robespierre, der radikale Führer der Französischen Revolution,  hatte erkannt, dass die Revolution, die die alten Autoritäten abgeschafft hatte, neuer Legitimationsquellen bedurfte und fand sie im theatralischen Kult ihrer selbst. Diese Verkitschung der öffentlichen Selbstlegitimation wurde mitsamt ihren Paraden, Aufmärschen und Denkmälern zu einem Erfolgsmodell des 19. Jahrhunderts.

Nach dem ersten Weltkrieg verwandelte sich der stark vergangenheitsbezogene bürgerliche Kitsch   zum totalitären Kitsch“, insofern sich sein Fokus von der Vergangenheit in die Zukunft,  ins „Visionäre“, verschob.  Ihm folgte nach dem Zusammenbruch  des linken und rechten Totalitarismus der „absolute Kitsch“ als finales Stadium der gesellschaftlichen Verkitschung.  Im absoluten Kitsch verbinden sich infantile Atonomiesehnsüchte des Subjekts mit Selbstberauschung und Theatralik zur absoluten Negierung der Realität. Die Wirklichkeit wird ihres Realitätsgehaltes entkleidet und durch eine sinnfrei um sich selbst kreisende Kritik zur bloßen „Konstruktion“  herabgestuft.  Selbst grundlegende Fakten wie die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen werden in Zweifel gezogen, ebenso die Existenz von Nationen, Klassen oder Institutionen. Diese Realitätsnegierung ist nur möglich durch eine konsequente  Moralisierung aller Lebensbezüge, besser gesagt: durch die Substitution der Wahrnehmung durch Empfindung. Erst wenn die Wirklichkeit mit der Empfindung über die Wirklichkeit gleichgesetzt wird, hat die Autonomie des Individuums ihren Zenit erreicht.   Daraus folgt: “Politischer Kitsch ist die Proklamierung von Unterkomplexität. Im Grunde ist alles einfach, man brauch nur Menschlichkeit, ein gutes Herz, Nächstenliebe, Empathie oder was auch immer. Wenn alle Menschen nur gut wären, dann könnte die Welt doch so gut sein“. Die Beiträge von Hollywoodgrößen, öffentlich-rechtlich alimentieren Künstlern und Mainstream-Literaten zur Klimawandel und Migration lassen grüßen.

Diesem hier  nur in Grundzügen skizzierten Siegeszug des kitschigen Bewusstseins ist  der Deutsche übrigens in ganz besonderer Weise verfallen. „Das wonnige Grausen, der erhabene Schauer gehört zur deutschen Gemütslage wie Popcorn zum Kino, schreibt Grau. „Also entzückt man sich an Untergangsszenarien aller Art, vom Waldsterben über den Atomtod, dem Ozonloch, dem sauren Regen bis zur anbrechenden Eiszeit oder Erderwärmung. Konsequenterweise wird eine Apokalypse nach der anderen fantasiert.“ Da sich aber keine Gesellschaft auf Dauer vor der Realität verschließen kann, wird es ein böses Erwachen geben. Denn, so Grau: „Dieser Ungeist (ist) vor allem auch das Produkt prosperierenden Massenwohlstandes. Man braucht deswegen kein Zyniker zu sein, um die Erwartung zu hegen, dass sich das Problem des kitschigen Politikbewusstseins zumindest teilweise von selbst löst.“

Alexander Grau hat  mit dem vorliegenden Buch auf engem Raum und in scharfer Zuspitzung eine neue Perspektive etabliert, mit der bislang disparate Phänomene in einem neuen Kontext anders und besser verstanden werden können. Der vollständige Abschied vom rationalen Diskurs, die aggressive Ausgrenzung rational argumentierender Antagonisten, die moralisch unterfütterte Selbstverblendung und die entsetzlich albernen öffentlichen Darstellungsformen  verbinden sich zum Gesamtbild einer verkischten Gesellschaft, die ein völlig unzutreffendes Bild ihrer selbst kultiviert. Sie als solche zu dekuvrieren kann als ein erster Akt des Widerstandes verstanden werden.

Dass die rasante kulturgeschichtliche tour de raison durch die Jahrtausende notwendigerweise in sehr großem Karo daherkommt, wird man dem Autor nicht ankreiden können. Über den Sprung vom Pietismus zur Romantik oder die  Rolle der Massenmedien für den Aufstieg des  kitschigen Bewusstseins zum „Goldstandard“ würde noch Manches  zu diskutieren sein.  Es gehört aber gerade aber zu den Vorzügen sehr guter Bücher, nicht nur neue Blickwinkel zu eröffnen, sondern auch Nachfragen zu provozieren, die nichts anderes darstellen als ein Weiterdenken auf dem Pfad, den der Autor geschlagen hat.  

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