Das Kriegsrecht (Leseprobe aus Kapitel 22)

Die Gewerkschaft wurde durch die Verhängung des Kriegsrechts völlig überrascht. Ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, besetzten 70.000 Soldaten der polnischen Armee und 30.000 Mitglieder der ZOMO alle wichtigen Gebäude und Verkehrsknotenpunkte im gesamten Land. Noch in der Nacht des Putsches erschien die Polizei mit Brechstangen vor der Wohnungstüre Lech Wałęsas und brachte ihn nach Warschau, offiziell zu Verhandlungen mit der Parteiführung, in Wahrheit, um ihn von seinen Mitarbeitern zu trennen.

Was die Verhaftung von Gewerkschaftlern anbetraf, so arbeiteten die Soldaten lange Listen ab, die bereits seit Wochen bereitlagen.  Der Ablauf war immer der gleiche. Einsatzwagen hielten in den Morgenstunden an der Wohnung des Gewerkschaftlers, stürmten die Treppen hoch, pochten an die Türe und drangen in die Wohnungen, wenn ihnen geöffnet wurde.  Meistens heulten die Ehefrauen und die Kinder, und die überraschten Arbeiter ließen sich widerstandslos festnehmen. Gewaltanwendung war nicht vorgesehen, aber auch nicht verboten, wenn sich die Gewerkschaftler widersetzen

Zeigten sich Demonstranten, feuerten die Soldaten das erste Mal knapp über die Köpfe hinweg, das zweite Mal den Stehengebliebenen in die Beine, und wenn dann noch Personen übrig blieben, wurden sie exekutiert. In der Grube „Wujek“ in Katowice erschossen die Spezialeinheiten der ZOMO ohne zu zögern neun streikende Arbeiter, als sie sich den Befehlen der Offiziere widersetzten. Die Zahl der in den ersten Wochen getöteten Arbeiter wurde von der Regierung mit einem Dutzend angegeben, war in Wahrheit jedoch viel höher. Die Armee zeigte  keine Scheu, im eigenen Land zu töten. Der Widerstand brach zusammen.

Nach seinem Einsatz vor dem Polizeihauptquartier hatte Andrzej Górski den Studenten, den er überfahren hatte, in die Leichenhalle des Militärkrankenhauses schaffen lassen. Ein Verkehrsunfall, schrieb er in seinem Bericht, und Major Boranzeff verlor kein Wort darüber.

Am nächsten Tag, als Ryszard Kaliński bei der Genossin Libarski nach Maksymilians Verbleib forschte, nahm Andrzej Górski  bereits an der Besetzung der Lenin-Werft teil. Die Soldaten, wurden mit Buhrufen und Schimpfworten empfangen, aber Widerstand blieb aus. Zähneknirschend erkannten die Arbeiter Andrzej Górski als einen ihrer ehemaligen Kollegen und ballten die Fäuste in den Taschen. Daniel Szpicz, der Andrzej Górski noch nie getraut hatte, spuckte aus, als er vorüberging.

An der Seite Major Boranzeffs schritt Andrzej Górski nach der Besetzung des Geländes  durch die Etagen des Verwaltungsgebäudes. Im Konferenzraum der Lenin-Werft begrüßten der  Direktor und seine leitendenden Kader die Offiziere.  Endlich sei die Ordnung wieder hergestellt, sagte Direktor Gnieniecki. „Wir danken der Partei für ihren Einsatz auch im Namen unserer Arbeiter.“

Major Boranzeff hörte sich diese Begrüßung mit ungnädiger Miene an. „Jeder von ihnen hätte es verdient, seine Position zu verlieren“, schnauzte er den Direktor an. „Von Ihrer Werft ging der Virus aus, der ganz Polen vergiftet hat.“

Was für eine Bande von Kanaillen, dachte Andrzej Górski. Zuerst kuschen sie vor den Arbeitern, nun kuschen sie vor uns. Kein Rückgrat. Lauter Amöben. Andere ließ seine Augen über die Gruppe der Kader schweifen. Wieder blickte er Ryszard Górski an, erkannte ihn aber nicht. Kurze Zeit später wurde Direktor Gnieniecki ausgetauscht.

Eine Flut von Verordnungen und Gesetzen ergoss sich in den nächsten Tagen über das Land. Auf Geheiß des ersten Sekretärs verbot das polnische Parlament alle Streiks, Vereinigungen und Gewerkschaften und legalisierte das Kriegsrecht. Briefverkehr und Presse wurden der Zensur unterworfen, außerdem standen Telefonverbindungen nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Rundfunk und Fernsehen sendeten ein reduziertes, strikt linientreues  Programm. Schulen, Hochschulen und Kultureinrichtungen wie Opern und Theater schlossen bis auf weiteres ihre Tore.

Dann rollte eine zweite Verhaftungswelle durch das Land. Diesmal waren Studenten, Schriftsteller und Künstler an der Reihe. Sie wurden zusammen mit den Gewerkschaftlern in landesweit zentralisierten Speziallagern festgesetzt. Sogar Edward Gierek, der ehemalige erste Sekretär, musste für kurze Zeit ins Lager.

Als unzuverlässig eingestufte Arbeiter verloren ohne Begründung ihre Stelle. Zehntausende Parteimitglieder, die Sympathien für die Solidarność hatten erkennen lassen, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Offiziere rückten an die Spitze der Industriebetriebe und übten unumschränkter Befehlsgewalt aus. Wer ihnen widersprach, musste mit einer Anklage vor einem Militärgericht rechnen. Propagandisten des staatlichen Fernsehens erschienen in den Fabriken und filmten Arbeiter, die erzählten, wie glücklich sie darüber seien, dass die Streiks endlich beendet seien. Die schwer bewaffneten Soldaten, die die Fernsehteams  und die Kollaborateure während der Aufnahmen schützten, sah man nicht.

So erfolgreich und schnell vollzog sich der Militärputsch, dass die Truppen des Warschauer Paktes jenseits der Grenze verblieben. Hocherfreut schickte der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew ein Glückwunschtelegramm nach Warschau. Ein Rat der nationalen Wiedergeburt unter Vorsitz von General Jaruzelski übernahm die unumschränkte Macht und ließ sich von der Staatspresse feiern. Wieder erschien der General vor der polnischen Flagge im Fernsehen und versprach eine baldige Verbesserung der Versorgungslage.

Davon konnte jedoch keine Rede sein. Amerikanische, deutsche und französische Firmen beendeten auf Druck ihrer Regierungen abrupt alle laufenden Projekte. Bereits  vereinbarte Kreditzusagen westlicher Banken wurden storniert, Lieferungen von Nahrungsmitteln, Ersatzteilen und Maschinen blieben aus. Nun arbeiteten die Arbeiter zwar wieder, aber Material und Kapital fehlten. Auch die Zerschlagung der schwarzen Märkte verbesserte die Lage nicht, denn die Bauern erzeugten nun, da sie ihre Ware staatlichen Aufkäufern abliefern mussten, einfach weniger Getreide und Fleisch. So blieben die  massenhaft ausgegebenen Bezugsmarken für Grundnahrungsmittel zu großen Teilen ungedeckt. Nichts hatte sich verbessert. Nur die Gewalt lag wie ein bleierner Mantel über dem Land.

 

*

 

Als das Frühjahr kam, verließ Andrzej Górski die Stadt. Nach Krakau und Danzig wurde Warschau sein neues Operationsgebiet. Die Hauptstadt war größer und grauer als Krakau oder Danzig, die Straßenbahnen waren voller, die Menschen blasser, nur die Auslagen der Geschäfte waren genauso leer wie im Rest des Landes. Die Restaurierungsarbeiten an den historischen Gebäuden, die Parteichef Gierek in den 1970er Jahren begonnen hatte, waren aus Geldmangel eingestellt worden. Soldaten patrouillierten  mit schussbereiten Waffen und kontrollierten Passanten, wann immer es ihnen gefiel.

In der Nähe der Weichsel bezog Andrzej Górski eine geräumige Wohnung, die einer wohlhabenden Familie gehört hatte, die bei Ausrufung des Kriegsrechts in den Westen geflohen war. Schönwetter-Kommunisten, dachte Andrzej. Wenn es hart auf hart ging, hauten sie ab. Da war sein Etagennachbar Leutnant Dariusz Wenzel ein ganz anderes Kaliber. Dariusz Wenzel war etwas älter als Andrzej Górski, ein kräftiges, untersetztes Muskelpaket mit einem quadratischen Gesicht und einer aufgesetzte Heiterkeit, die von einem Augenblick zum nächsten in Jähzorn umschlagen konnte. Dariusz Wenzel stammte aus Nikolaiden, hatte früh geheiratet, war aber längst wieder geschieden, weil er seine Frau mussshandelt  hatte. Andrzej Górski kannte ihn von verschiedenen Einsätzen in der Umgebung von Danzig und wusste, dass Dariusz Wenzel das Vertrauen Boranzeffs genoss.

Eine Etage über Górski lebte der SB Angehörige Zygmunt Rolkowicz.  Zygmunt Rolkowicz  war ein hervorragender Einzelkämpfer, wenngleich labil, so dass man nie wusste, was er als nächstes tun würde.  Beim Verhör mit Gefangenen war er erfolgreich, weil seine plötzlichen Temperamentswechsel von Nachsicht zur Brutalität die Gefangenen zermürbte.  Seinen notorischen Bluthochdruck kurierte er mit Alkohol, den er in Gestalt eines kleinen Flachmanns in seiner Bursttasche mit sich trug.

An der Seite von Dariusz Wenzel und Zygmunt Rolkowicz besuchte Andrzej Górski das „Jagiello“, ein Lokal in der Nähe der Krakauer Vorstadtstraße. Es gehörte dem Weißrussen Anatoli Grodnow, der die Erträge seiner Schiebereien in eine Bar für Soldaten und Polizisten investiert hatte. Im „Jagiello“  verkehrten vornehmlich junge, unverheiratete Angehörige des SB, die gerne das angeschlossen Etablissement besuchten, in dem junge Frauen aus der Ukraine, Weißrussland und Moldawien ihre Dienste anboten.

Im „Jagiello“ traf Andrzej Górski auf lauter Gleichgesinnte, denen der Zugriff auf Regimegegner nicht hart genug sein konnte. Selbst der erste Sekretär Jaruzelski war ihnen zu weich. Ihre Helden waren Innenminister Kiszczak und General Riblewski, von denen es hieß, dass sie gegen den ersten Sekretär konspirierten. Der Umgangston war rau, und jeder, der nicht auf der Stelle bereit war, Meinungsverschiedenheiten körperlich auszutragen, geriet in die Position eines verachteten Außenseiters. Gwido Hecki, der bald auch im „Jagiello“ auftauchte, schlug einem SB Mann aus Dukla eine Flasche über den Kopf,  als sie sich bei der Auswahl der Prostituierten ins Gehege kamen. Andrzej Górski prügelte sich mit schon am dritten Abend mit Witek Barczecki, einem SB-Leutnant aus Gniezo. Warum, interessierte niemanden, es musste einfach sein. Barczecki war kampferprobt und schnell  und traf Andrzej mehrfach schwer am Kopf, musste aber auch schmerzhafte Tritte einstecken. Am Ende einigten sie sich  auf ein Unentschieden und tranken Whisky zusammen.

Ungern gesehen waren normale Besucher, die einfach nur im Jagiello etwas trinken und sich mit den leichten Mädchen vergnügen wollten. Sie mussten Fantasiepreise für die Getränke bezahlen und riskierten, verprügelt zu werden, wenn sie dagegen Einspruch erhoben. In einer Gruppe solche Besuche entdeckte Andrzej Górski an einem Abend seinen ehemaligen Schulkameraden Bodo Baumann im „Jagiello“. Er erkannte ihn an seinem Schlangengesicht und seinem Kobrakinn. Neu war die Halbglatze und die leicht verfettete Hüfte. Ohne zu zögern trat Górski von hinten von an Baumann heran und legte ihm den Am um die Schulter.  „Ich begrüße den Vorsitzenden des Intelligenzler-Clubs“, flüsterte er ihm vertraulich ins Ohr. „Was verschafft uns die Ehre?“

Bodo Baumann drehte ich um und stutzte. Dann erkannte er Andrzej Górski, und sein Gesicht nahm einen verzerrten Ausdruck an.

„Ja, Baumann, ich sehe du erkennst mich“, nickte Andrzej. „Ich bins,  Andrzej Górski, dein Mitschüler auf dem Lyzeum von Ruków. Erinnerst du dich?“

„Ja, ich erinnere mich“,  stammelte Baumann, jetzt schon etwas besorgter. „Andrzej Górski, welche Überraschung, dich hier zu treffen.“

„Hoffentlich eine angenehme Überraschung?“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Bodo Baumann und versuchte, sich zu fassen.

„Ach ja“, wunderte isch Andrzej Górski. „Auf dem Lyzeum hast du es aber abgelehnt, in der gleichen Klasse wie ich unterrichtet zu werden?“ sagte Andrzej Górski laut. Einige Gäste wandten den Kopf zur Thek

„Nein, da irrst du dich, Andrzej“, widersprach Baumann. Das war anders. Und außerdem ist da lange her. Möchtest du etwas trinken?“

„Gerne“, erwiderte Górski. „aber nicht nur ich, sondern alle, die sich in der Bar aufhalten.“

Andrzej Górski wandte sich um. „Hey Anatoli, „rief er. „Dieser Gast möchte eine Lokalrunde bestellen. Oder habe ich da etwas missverstanden?“ fragte Andrzej Górski und rückte nahe an Baumann heran.

Baumann war einen Kopf kleiner als Andrzej und duckte sich. „Nein selbstverständlich gebe ich gerne eine Lokalrunde aus“, antwortete er und grinste unsicher in die Runde.

Niemand regierte. Es war bedrohlich ruhig geworden.

„Andrzej packte Baumann am Kragen. „Sobald die Runde kommt und du bezahlt hast, verschwindest du aus diesem Lokal und lässt dich hier niemals mehr blicken, du elender Mistkerl.  Und wenn ich dich das nächste Mal sehe, breche ich dir die Knochen.“

„Warum brichst du ihm nicht gleich die Knochen?“ fragte Rulcovicz.

Bodo Baumann wurde blass bei diesen Worten, legte so schnell er konnte sein ganzes Bargeld auf den  Tresen und verließ fluchtartig das Kokal.

Wer war das? fragte Wenzel.

„Ein Mitschüler aus alten Tagen, mit dem ich noch eine Rechnung offen hatte“,  erwiderte Andrzej.

„Hoffentlich war er kein hohes Tier, das könnte ärger geben“, warf  Anatol Grodnow ein.

„Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet.  Vertrauliche Informationen, die Andrzej in den nächsten Tagen einholte, zeigten, dass Bodo Baumann innerhalb der Partei ein kleines Licht war. Er hatte es nicht weit gebracht und fristete ein tristes Leben als Sachbearbeiter im Landwirtschaftsministerium

 

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