Die Stadt der Zukunft (Leseprobe aus Kapitel X)

Die Stadt der Zukunft

Es dauerte noch einige Wochen, ehe Ryszard das Thema am Sonntagstisch zur Sprache brachte. Marianna Kołek, Hanna und Janka hatten Bigos zubereitet. Sein Bruder Tomek schawenzelte wieder um Hanna herum, ohne zu bemerken, welch lächerliche Figur er dabei abgab. Breit und mächtig saß Józef Kołek am Kopfende des Tisches und griff als Hausherr zuerst in die Töpfe. Józef war entscheidende sieben Jahre älter als Ryszard Kaliński und schien schon fast einer anderen Generation anzugehören. Aber es führte kein Weg daran vorbei, das Thema endlich zur Sprache zu bringen.

Ohne große Vorrede fiel Ryszard deswegen gleich mit der Türe ins Haus. „Ich möchte wissen, wann ich mein Erbe erhalte“, sagte er mitten in eine Gesprächspause hinein und blickte über den Tisch.

Józef aß in aller Ruhe weiter und schien über diese Frage nicht überrascht. Dann antwortete er: “Das eilt nicht. So wie wir im Augenblick arbeiten, kommen wir gut zurecht. Sobald du heiratest, werden wir die Höfe neu aufteilen.“

Tomek senkte den Kopf über seinem Bigos. Maria schwieg und wunderte sich, wie Ryszard  von Jahr für Jahr mehr dem Vater glich, dieselbe Kraft, dieselben flinken Beine, nur hinsichtlich seiner Wesensart kam er mehr auf seine Mutter.

„Wie? Und wenn ich nicht heirate, bleibe ich meine Leben lang ein Knecht auf dem Hof meines Vaters?“ antwortete Ryszard scharf.

Maria legte das Besteck beiseite. „Gieneck, was redest du? Du bist doch kein Knecht. Du bist Teil unserer Familie.“

„Aber ein untergeordneter“, gab Ryszard zurück. „Alle wichtigen Fragen besprichst du mit Józef ohne mich zu fragen.“

„Das liegt einfach daran, dass du weniger Erfahrung hast als Maria und ich“, warf Józef ein. „Wir beide führen die Höfe schon seit Jahren, aber wenn du willst, können wir dich demnächst bei der Planung der  Arbeiten stärker einbeziehen.“

Ryszard spürte, wie ihn Józefs Ruhe ärgerte. „Sehr gönnerhaft“,  gab er zurück, „aber ich möchte mein eigener Herr sein.“

„Hier auf dem Land ist niemand sein eigener Herr“, gab Józef zurück. „Soll ich dir sagen, wer die Herren des Landes sind? Der Regen und der Wind, die Sonne und das Wasser. Nach ihnen haben wir uns zu richten. Und das gelingt uns am besten, wenn wir alle zusammenarbeiten.“

Ryszard schwieg einen Moment. „Soll das heißen, dass ich mein Erbe nicht erhalte?“ fragte  er.

„Ich sagte doch: Nicht jetzt. Wenn du eine Familie gründen willst, reden wir darüber“, erwiderte Józef und begann wieder zu essen.

Ryszard blickte auf Tomek. „Bruder, nun sag doch auch einmal etwas.“ Aber noch ehe Tomek antwortete, wusste Ryszard, dass er von ihm keine Unterstützung erhalten würde. Wie weich seine Augen waren, wie nachgiebig sein Gehabe

„Ich finde richtig, was Józef sagt“, erwiderte Tomek. „Wenn wir Familien gründen, erhalten wir das Erbe und unsere eigenen Höfe.“

„Und noch etwas“, schaltete sich Józef wieder ein. „Wenn du von deinem Erbe sprichst, Ryszard, dann bedenke, dass nur einer von drei Erben bist. Wenn wir den Kalińskihof dritteln, wie willst du dann von einem so kleinen Hof leben?“

„Wie, dritteln?“ fragte Ryszard empört. „Bist du verrückt geworden? Maria ist doch deine Frau, sie lebt bei dir und braucht kein eigenes Land. Das Erbe meines Vaters wird geteilt, besser noch, es bleibt als Ganzes für Tomek und mich erhalten, und mein Bruder und ich wirtschaften in Zukunft gemeinsam, aber nach  unserem Gutdünken.“ Ryszard erhob sich und blickte Józef von oben an. „Ich bleibe dabei. „Ich verlange die Hälfte der Höfe, der Ställe, des Viehs und des Saatgutes.“

Marianna Kołek  alinksa stand auf und verließ das Zimmer.

„Nein“, antwortete Józef. „Ich habe dir gesagt, wie wir es machen und dabei bleibt es. Und nun setz dich wieder.“

„Weißt du was, Józef“ giftete Ryszard. „Du bist genau das, was die Kommunisten seit je her bekämpfen: ein raffgieriger Bauer, der nur an sich selbst denkt. Aber die Zeiten der Knechtschaft sind vorüber.“

Józef warf den Löffel in die Suppe, dass es klirrte. „Rede in diesem Haus nicht von den Kommunisten, diese Mördern und Blutsaugern“, gurgelte er drohend.  „Denk an deinen Onkel, der nach Sibirien verschleppt wurde, denk an die gefälschten Wahlen und den Priester, der spurlos verschwunden ist.“

„Was interessiert mich mein Onkel oder der Priester, ich will mein Erbe, und zwar sofort“,  kreischte Ryszard.

„Ich sage nein“

Kurdamatsch“, brüllte Ryszard und trat gegen den Stuhl, dass er durch den Raum purzelte.

Józef stand auf. Er war einen Kopf größer als sein Schwager. Der aber war erheblich muskulöser. „Was unterstehst du dich in meinem Haus…“

„Es ist das Haus meines Vaters“, brüllte Ryszard und ballte die Fäuste

Ehe die beiden handgreiflich werden konnten, gingen Maria und Tomek dazwischen. Maria versuchte Ryszard zu umarmen. „Ryszard, mein Lieber“, keuchte sie. „ich erkenne dich gar nicht wieder. Wer hat dir diesen Floh ins Ohr gesetzt? Komm zur Besinnung. Denk daran, dass wir eine Familie sind.“

Ryszard riss sich los und stieß die Schwester von sich. „Auf eine solche Familie kann ich verzichten“, antwortete er. „Wenn ich mein Erbe nicht sofort erhalte, verlasse ich den Hof.“

 

Schon zwei Tage nach der Auseinandersetzung fuhr Ryszard nach Ruków und verpflichtete sich als  Bauarbeiter für Nowa Huta. Von Wioletta Polak hatte er nichts mehr gehört, mit Józef war die Stimmung gründlich verdorben.  Was sollte er noch in Nowolipie?

Nowa Huta war zu dieser Zeit in aller Munde. Es war der Name einer neuen Stadt, die in der Nähe von Krakau entstehen sollte. Eine Metropole der Zukunft für den neuen sozialistischen Menschen, in der die Verheißungen der Partei Wirklichkeit werden sollten. Je eher diese Zukunft anbrach desto besser, schien die Regierung zu denken, so dass sie im ganzen Land nach Arbeitskräften suchte und  jeden verpflichtete, der sich bewarb.

Als Ryszard sich von seiner Schwester verabschiedete, brach Maria in Tränen aus. Auch Józefs Mutter Marianna Kołek  war bedrückt. Sie umarmte Ryszard und steckte ihm ein Bündel Zlotyscheine zu. Józef stand stumm im Hintergrund und sagte nichts.

Tomek Kaminksi brachte seinen Bruder mit dem Pferdefuhrwerk zum Bahnhof. „Im nächsten Jahr will ich vielleicht auch nach Nowa Huta“, sagte er und gab dem alten Gaul die Zügel.

Ryszard schwieg. Er grollte Tomek, weil er ihn in dem Streit mit Józef nicht unterstützt hatte, aber er war wie er war und konnte nicht anders. Er war rettungslos in Hanna Kołek verliebt und würde den Hof niemals verlassen.

Im Zug nach Krakau traf Ryszard zahlreiche junge Männer, die sich ebenfalls arbeitsverpflichtet hatten. Manche mochte die Not dazu getrieben haben, andere die Abenteuerlust, aber alle erwarteten Wunderdinge von der der neuen Stadt.  Am Schnittpunkt der Eisenbahnlinien und Verkehrswege und  in der Nähe der oberschlesischen Kohlereviere gelegen, sollte in Nowa Huta die ultimative Industriestadt entstehen, die moderne Alternative zur benachbarten  Königsstadt Krakau mit ihren Kirchen und Klöstern.

Als  Ryszard Nowa Huta erreichte, erwartete ihn eine riesige Baustelle. Er überblickte ein weites Gelände voller Baracken, Baustellen und Schlammpisten, neben denen Maschinen, Rohre und Baumaterialien lagerten. Gruben wurden ausgehoben, Straßen befestigt und Gütertransporte entladen. In Nowa Huta wurde an nichts gespart, weder am Material, noch am Essen. Große Schweinefleischportionen, reichlich Kartoffeln und Gemüse und all das mit Nachschlag, versetzten Ryszard in Erstaunen. Junge, kräftige Bauernsöhne saßen an langen Tischen und futterten, als drohe ihnen der Hungertod. Manche von ihnen arbeiteten das ganze Jahr in Nowa Huta, andere, die eigene Höfe und Familien besaßen, blieben nur saisonweise. Die ersten Wochen schlief Rszard auf einer Pritsche in einem Zelt, dann erhielt er ein Bett einem Vierbettzimmern in einer Schlafbaracke.

Ryszard Zimmergenossen kamen aus allen Teilen Polens. Gabriel aus Warschau hatte das Bett gleich am Fenster in Beschlag genommen. Er war ein stämmiger junger Mann mit abstehenden Ohren und einer Warze neben seinem rechten Auge. Sein Händedruck war brachial und seine Stimme rau vom Wodka. Er war das jüngste von sieben Kindern einer galizischen Familie, die 1945 von Lwów nach Schlesien vertrieben worden war.

Gleich an der Wand befand sich das Bett von Tymon, einem drahtigen jungen Mann aus Białystok an der weißrussischen Grenze. Tymons Gesicht war pockennarbig und grob, und wenn er lachte, entblößte er zwei Reihen großer gelber Zähne. Er besaß lange, muskulöse Arme, die nicht zum Rest seines schlanken Körpers passen wollten. Gut gelaunt war er nur, wenn er am Feierabend sein Bier erhielt. Die ersten fünf oder sechs Biere machten ihn fröhlich und leutselig, ab dem siebten oder achten Bier wurde er unberechenbar.

Ryszard Bettnachbar war Olivier aus der Gegend von Radom. Er war ein hübscher junger Mann mit dichten pechschwarzen Haaren, der entsetzlich stotterte. Olivier hatte sein Dorf in Südpolen  wegen einer Liebesaffäre verlassen, über die er partout nicht sprechen wollte. Die meiste Zeit nahm er nur als ruhiger Beobachter am Gespräch teil, nur Nachts machte er mächtig Krach, denn er knirschte abwechselnd mit den Zähnen und schnarchte.

Ryszard, Gabriel, Tymon und Olivier waren für die Verteilung der Baustoffe zuständig. Manchmal hatten sie den ganzen Tag nichts zu tun, weil kein Material angeliefert wurde, dann mussten ein Dutzend Lieferungen auf einmal abgeladen und bearbeitet werden. Abends fielen sie entweder müde ins Bett, tranken Bier in der Kantine oder dösten während einer der obligatorischen Politschulungen, die die Partei in Nowa Huta durchführte. Bei diesen Vorträgen hörten die Arbeiter von den Heldentaten kommunistischer Partisanen, von der Weisheit Staatspräsident Bieruts und dem unbedingten Vorbildcharakter der großen Sowjetunion. Nach den Referaten meldeten sich die Streber zu Wort und ergingen sich in Lobpreisungen der Partei oder Wiederholungen dessen, was sie gerade erst gehört hatten. Die Mehrheit der jungen Männer aber schwieg – entweder, weil sie nichts verstanden hatten, oder weil sie ahnten, dass die offizielle Parteilinie schon Morgen eine andere sein konnte. Das, was die Männer wirklich dachten, äußerten sie ohnehin erst nach den Vorträgen auf den Zimmern.

Gabriel aus Warschau machte sich lustig über einen Referenten, der ihnen die Vorzüge des Kolchossystems erklärt hatte. „Dieser Mensch kann unmöglich jemals eine Kolchose von innen gesehen haben, sonst hätte er nicht einen solchen Blödsinn erzählt. Meine Brüder arbeiten in einer Kolchose in den wiedergewonnenen Gebieten und haben den ganzen Tag kaum etwas zu tun. Zu essen bekommen sie trotzdem, weil die Partei die Kolchosen unterstützt. Jedermann klaut und unterschlägt, das Material verkommt, und das Gemüse verschimmelt auf den Feldern, weil die Kolchosmitglieder besoffen sind. ”

”Das spricht doch nicht gegen die Kolchosen, sondern das liegt an der mangelnden Disziplin”, widersprach Tymon. „Die Idee der Kolchose ist gut, nur die Leute sind einfach zu faul, diesen Ansatz in die Praxis umzusetzen. Außerdem besitzen die meisten Kolchosen noch keine Maschinen. Wenn die erst einmal da sind, werden sich die Kolchosen in ganz Polen durchsetzen.”

„Wenn du die Ko-Ko-Kolchosen so gut findest, warum bist du denn nicht in ei-ei-ei-eine eingegetre-tre-ten?” stotterte Olivier.

„Wäre ich ja vielleicht auch, aber in Białystok gibt es keine Kolchosen. Ich weiß auch nicht, wieso.”

„Da wäre ein fauler Sack wie du auch besser aufgehoben”, lachte Gabriel.

„Halts Maul, du REwanchist” gab Tymon zurück. „Du bist doch zu blöd, zehn Ziegel auf einen Haufen zu stapeln.”

Die Zimmertüre öffnete sich und der Vorarbeiter Bartek kam mit einem halben Dutzend Bierflaschen in die Stube. Bartek Karlicz war der Vertrauensmann der Partei in der Baracke, ein wackerer, aufrechter Mann in mittleren Jahren, der mit allen gut auskam, mit den kommunistischen Brigadeleitern ebenso wie mit den einfachen Arbeitern und den Kantinenfrauen.  „Hier, eine Runde Bier für alle, die morgen zum Vortrag über das Rechtsaweichlertum gehen. Erwartungsvoll blickte sich Bartek um. „Na, wer möchte eine Flasche?”

„Schon wieder ein Vortrag?” meckerte Tymon. „Wenn alle Referenten, die uns die Ohren vollquatschen,  auf dem Bau eingesetzt würden, waren wir längst fertig.”

„Darf ich mein Bettzeug mitbringen?“ fragte Gabriel. Alle lachten und griffen zu den Bierflaschen.

„So witzig finde ich das nicht”, mahnte Bartek. „Die Gefahr des kleinkapitalistischen Rechtsabweichlertums ist nicht zu unterschätzen.”

„Was heisst ei-ei-eigentlich R-R-Rechtsabweichlertum?” wollte Olivier wissen.

„Rechtsabweichlertum ist, wenn du als Bauer Tag und Nacht arbeitest und mehr Geld für deine Leistung haben willst, als ein Kolchosmitglied, das auf der faulen Haut liegt.” gab Gabriel zurück.

„Und was ist dann Linksabweichlertum?” wollte Ryszard wissen.

„Linksabweichlertum ist, wenn du gar nicht mehr arbeiten, aber trotzdem Lohn haben willst”, antwortete Gabriel, der schon die halbe Flasche leer hatte.

Tymon hob in theatralischer Pose die Hand. „Genosse Bartek, ich verlange, dass der Genosse Gabriel wegen seiner konterrevolutionären Reden morgen zu einer Sonderschicht ohne Lohn  verdonnet wird.”

Bartek schmunzelte. „Gemach, gemach, Genossen, ihr schüttet das Kind mit dem Bade aus. Dass es noch Probleme und Schwierigkeiten gibt, ist ja unbestritten, aber bedenkt doch, welche Vorteile euch der Kommunismus bereits gebracht hat.”

„Welche denn?” wollte Gabriel wissen.

„Zum Beispiel im Schulwesen”, antwortete der Vorarbeiter. „So viele Bauernsöhne wie noch nie  besuchen mittlerweile die neu eingerichteten Schulen. Meine Kinder werden nach meiner Zeit in Nowa Huta auf Kosten der Partei studieren können. So viele Kinder einfacher Leute werden zur Zeit Lehrer, Ingenieure oder Ärzte.”

„Und wenn sie einmal in Amt und Würden sind, denken sie auch nur an sich. Wo liegt denn dann der Unterschied zu den Kapitalisten der alten Zeiten?“ fragte Gabriel.

„Idioten gibt es überall” schaltete sich Tymon ein. „Selbst in unserer Baubrigade. Schau dich doch nur selbst an“, fuhr Tymon an Gabriel gewandt fort. „Das Schönste an dir sind doch deine abstehenden Ohren.“

Wieder kreischten alle vor Lachen. Bartek öffnete neue Flaschen. Die Männer waren nicht verkehrt, der Kommunismus würde sie schon eines Tages überzeugen. Ryszard trank mit und dachte an Wioletta Polak. Er hatte ihr schon zwei Briefe an die Adresse der Górskis in Nowolipie geschrieben, doch er hatte keine Antwort erhalten.

Die Wochen vergingen, aber die Bauarbeiten kamen nur langsam voran. Manchmal wurde der Stahl für die Gerüste vor dem Ziegeln geliefert, dann stürzten halbfertige Gebäude ein, und Architekten und Bauleiter stritten, wer dafür die Verantwortung trug. Eine ganze Woche lang lagen alle Arbeiten brach, weil ein Projektleiter von der Geheimpolizei als Agent des internationalen Großkapitals enttarnt worden war. Zugleich machte sich der Schlendrian breit, die ersten Trinker fielen aus der Rolle und wurden heimgeschickt. Bald waren Schlägereien an der Tagesordnung, bis die Baupolizei durchgriff und die auffälligsten Randalierer verhaftete.

Sechs Wochen nach Ryszard Ankunft gab es einen arbeitsfreien Tag.  Alle Arbeiter mussten sich auf einem weiten, ebenen Gelände versammeln, an dessen Frontseite eine Tribüne errichtet worden war. Nachdem eine halbe Hundertschaft Soldaten Aufstellung bezogen hatte, fuhr ein Konvoi aus fünf schwarzen Limousinen vor. Dem zweiten Wagen entstieg Staatspräsident BoLesław Bierut, um  die Tribüne  zu besteigen.  Józef, der in einer der hinteren Reihen stand, klatschte wie alle anderen, als der Bauleiter den hohen Gast begrüßte. Der Staatspräsident winkte der Menge huldvoll zu und begann mit einer Rede, die niemand verstehen konnte, weil die  Lautsprecheranlage nicht funktionierte. Nur die Gesten des kleinen Mannes vorne auf der Tribüne waren zu erkennen. Abwechselnd wies er mit dem Zeigefinger nach oben oder schüttelte die Faust. Dann war der Staatspräsident fertig. Auf ein Zeichen der Vorarbeiter klatschten die Zuhörer. Wieder winkte der Staatspräsident der Menge zu, dann entschwand er in seinem schwarzen Lada. Anschließend gab es Freibier und ein dreifaches Hoch auf die Partei.

An den Wochenenden blieben die meisten Arbeiter in den Unterkünften, um Geld zu sparen. Vor lauter Langeweile begannen die Männer Prügeleien oder soffen billigen Fusel, meist das zweite vor dem ersten. Ein junger Mann aus Legnica wurde als Dieb enttarnt und verhaftet.

Gabriel fragte den Vorarbeiter, wo man eine Messe besuchen könne.  Bartek Karlicz schüttelte den Kopf. „Meine Güte, Gabriel, bist du denn von gestern? Kirchen und Pfaffen haben in Nowa Huta nichts zu suchen. Nowa Huta wird eine neue Stadt für den neuen Menschen sein. Da würde die Religion in ihrer Rückständigkeit nur stören.”

Ryszard hörte es und schwieg. Dass er nun schon seit Monaten in Nowa Huta lebte, ohne dass er ein einziges Mal in der Kirche gewesen war, kam ihm falsch vor. Zwei Arbeiter aus dem Nachbarzimmer beklagten sich bei Bartek Karlicz, dass in Nowa Huta an alles gedacht würde, nur nicht an eine Kirche. „Und das mit gutem Grund“, erwiderte Bartek barsch. „Nowa Huta wird eine moderne Stadt sein, eine Stadt ohne Gott, eine Stadt der Zukunft.“

Immer wieder kamen Priester aus Krakau und versuchten, Zutritt zu den Baustellen zu erhalten. Einer von ihnen, der sich Bruder Erasmus nannte, stand im Priesterornat und mit schadhaftem Schuhwerk an der Bushaltestelle und spendete jedem, der vorüberkam, seinen Segen. „Der Segen des Herrn  sei mit dir, mein Sohn“, rief er, als der Bartek mit Angehörigen des Sicherheitsdienstes herbeieilte, um den Priester zu verjagen.

Der Herbst brachte heftige Stürme, doch in den Baracken wurde gut geheizt. Die Bauarbeiten dauerten an, vornehmlich im Innern der bereits fertiggestellten Gebäude und an den Zufahrtswegen. Weil immer wieder der Strom ausfiel, wurde ein neues Kraftwerk in der unmittelbaren Umgebung von Nowa Huta errichtet, aber auch dessen Betrieb verlief nicht störungsfrei.

Im Dezember fielen die Temperaturen unter null Grad, und die Arbeiten gerieten ins Stocken. Schließlich wurde der Baubetrieb zu Weihnachten und zum Jahreswechsel zwei Wochen lang ganz eingestellt.  Das wunderte Ryszard, denn was hatten die Kommunisten mit der Geburt Jesu zu tun? Aber selbst Tymon fuhr zu seiner Familie nach Białystok – „nur meiner Mutter zuliebe“, wie er versicherte.

Ryszard blieb über den Jahreswechsel in Nowa Huta, weil er der Familie grollte. Auch von Wioletta Polak hatte er nichts mehr gehört. Vielleicht hatte sie seine Post überhaupt nicht erhalten. Oder ihre Antworten wurden zurückgehalten. Bartek, daraufhin befragt, ging zur Poststelle, um sich nach nicht ausgelieferter Post zu erkundigen. „Nichts“, sagte er, als er zurückkam. „Alle Briefe wurden ordnungsgemäß verteilt.“

Kurz darauf erhielt Ryszard ein großes Paket voller Konserven, dazu einen Pullover, den Maria für ihn gestrickt hatte und einen knurrigen Brief von Józef, in dem ihn er schrieb, dass Ryszard jederzeit wieder auf dem Hof willkommen sei. Auch über das Erbe könne man noch einmal reden. Das klang ganz und gar nicht nach seinem Schwager. Hier hatte seine Schwester ihre Hand im Spiel gehabt.

Im Januar kehrten die meisten Beschäftigten wieder nach Nowa Huta zurück. Inzwischen lag das ganze Gelände unter tiefem Schnee begraben, selbst die Barackentüren waren wegen des Schnees kaum zu öffnen. Bartek ging mit Kannen voller Herbata durch die Bracken und hörte sich an, was die Männer nach ihrer Rückkehr zu erzählen hatten. Einem war während seiner Zeit in Nowa Huta die Frau von der Fahne gesprungen, einem anderen war die Mutter gestorben, das Kind eines dritten war krank. Für jeden hatte der Vorabreiter ein freundliches Wort, eine Geschichte oder einen Rat, als wäre er ein Priester.

Auch Ryszard sprach mit ihm und erzählte Bartek von dem Familienstreit und seiner unerwiderten Liebe zu Wioletta Polak. Bartek wiegte den Kopf hin und her und sagte „Liebe braucht Zeit, sogar im Sozialismus.“  So sei das eben, die Frauen im Sozialismus seien selbstbewusster als früher, was sie als Partnerinnen wertvoller, aber auch schwieriger mache. Er selber habe um seine Frau nicht weniger als vier Jahre werben müssen.

Ein andermal sprachen sie über den  Sozialismus, und Bartek erzählte Ryszard die Geschichte der Großen Oktoberrevolution. Gebannt lauschte Ryszard Barteks Beschreibung der vorrevolutionären Situation, der Not der Massen unter der zaristischen Autokratie, von Lenin und Stalin und dem blutigen Bürgerkrieg gegen die reaktionären weißen Generäle. Selbst die Polen waren damals über das Vaterland der Werktätigen hergefallen, erzählte Bartek. Davon hatte Ryszard noch niemals etwas gehört, und auch wenn er nicht alles glauben mochte, was Bartek erzählte, hörte er dem Vorabreiter gerne zu, weil seine Geschichten immer gut ausgingen und weil der Zielpunkt seiner Erzählungen eine bessere Zukunft war.

Im Februar wurde es noch kälter, die Heizung fiel tagelang aus, und die ersten Männer mussten mit Erfrierungen ins Krankenhaus nach Krakau eingeliefert. Andere wurden wegen  Alkoholvergiftungen behandelt. Die Zahl der Schlägereien in den Baracken nahm überhand, die  Zimmer verwahrlosten, und Läuseplagen traten auf, obwohl jede Menge Insektengift versprüht wurde.

Erst ab Ende Februar, als es plötzlich wieder wärmer wurde, konnte mit der Arbeit erneut begonnen werden. Der Betrieb war gerade erst wieder in Gang gekommen, als Anfang März die Barackeninsassen durch scheppernde Trauermusik im Morgengrauen geweckt wurden. Alle Arbeiter wurden über Lautsprecher und Megaphone aufgefordert, sich  innerhalb der nächsten Stunde auf dem großen Versammlungsplatz einzufinden. Teilnahme sei Pflicht. Nichterscheinen werde streng geahndet.

Noch bevor sich alle Bauarbeiter auf dem großen Versammlungsplatz eingefunden hatten, machte die Nachricht die Runde. STALIN WAR TOT.

„Endlich ist der Drecksack hin“, entfuhr es Gabriel.

„Wenn du dein vorlautes Schandmaul nicht hältst, wird es dir noch einmal schlecht ergehen“, zischte Tymon, während er eilig aufstand, um sich anzuziehen.

Ryszard stand während der Trauerkundgebung viel zu weit hinten, um zu erkennen, wer vorne sprach. „Der Vater der  Völker ist von uns gegangen“ verkündete der Mann auf der Holztribüne mit einer merkwürdig verzerrten Lautsprecherstimme. „Gestern Morgen ist Marschall Stalin in Moskau verstorben. Die gesamte kommunistische Welt trauert, ist aber wachsam. Ein Ausschuss führender Genossen des Zentralkomitees hat in der UdSSR die Regierungsgeschäfte übernommen. Alle Streitkräfte stehen bereit, falls der imperialistische Klassenfeind Übergriffe plant.“ Totenstille herrschte auf dem Versammlungsplatz. Weder Geräusche der Trauer noch Jubel waren zu hören. Der Redner  sprach weiter und pries den Verstorbenen als  Lenins bedeutendsten Schüler, als weisen Führer des Weltkommunismus, als Vater der russischen Industrialisierung und als Sieger über Nazi-Deutschland.

Drei Tage lang hingen die Fahnen auf Halbmast, drei Tage lang wurde nicht gearbeitet. Dafür fanden pausenlos Zusammenkünfte statt, auf denen die Arbeiter über Stalins weltgeschichtliche Bedeutung informiert wurden. Nach jeder Sitzung meldeten sich Aktivisten zu Wort und legten glühende Bekenntnisse zum Sozialismus ab. „Der Tod Stalins ist uns Aufgabe und Verpflichtung“ stand in großen Lettern auf der ersten Seite der Parteizeitung zu lesen, die tausendfach  in den Unterkünften verteilt wurde. Und daneben: „Der internationale Klassenkampf duldet keine Pause. Arbeiter verpflichten sich zu Sonderschichten zu Ehren Stalins.“ So war es auch in Nowa Huta. Eine spontan zusammengerufene Sitzung der Barackenältesten von Nowa Huta entschied, dass alle Bauarbeiter zwei Wochen lang umsonst zu Ehren Stalins arbeiten würden.

Im Rahmen dieser Sonderschichten kam es in einem anderen Teil des Baugeländes von Nowa Huta  zu einem aufsehenerregenden Rekordversuch. Einem polnischer Arbeiter, vom Tode Stalin tief erschüttert und fest entschlossen, sich noch rückhaltloser dem Sozialismus zu verschreiben, gelang die Verarbeitung von 30.000 Ziegeln in einer einzigen Schicht. Sein Name war Mateusz Birkut, und die Bauleitung von Nowa Huta sorgte dafür, dass die Nachricht von dieser sozialistischen Heldentat im ganzen Land verbreitet wurde.

„Das ist ein Drecksack“ meinte Gabriel hinter vorgehaltener Hand. „Und dieser Rekord ist Schwindel. Seine ganze Maurerbrigade hat dem Kerl die Ziegel hinterhergetragen, damit er möglichst viele davon in seiner Schicht verarbeiten konnte. Du wirst sehen, dass die Bauleiter diesen Schwindel dazu ausnutzen werden, die Arbeitsnormen auf den Baustellen zu erhöhen.“

Am Ende des Monats erhielt Ryszard endlich Post von Wioletta Polak. Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet und zögerte lange, den Brief zu öffnen. Schließlich fasste er sich ein Herz und las, dass Wioletta Polak von Warschau nach Nowolipie umgezogen war. Sie würde von jetzt an auf dem Górskihof bei ihrer Schwester wohnen und alles Weitere würde sich finden. Wieder diese vage Wendung, die alles Mögliche bedeuten konnte. Auch warum Wioletta Warschau verlassen hatte, war dem Brief nicht zu entnehmen. Am Ende entschuldigte sich Wioletta dafür, die Briefe von Ryszard nicht beantwortet zu haben. Sie habe sie aber alle gelesen, und wenn er noch so für sie empfinde, wie es in den Briefen zu Ausdruck komme, dann freue sie sich auf ein Wiedersehen.

Ryszard las den Brief wohl ein dutzendmal, vor allem das Ende, in dem Wioletta auf ihn zu sprechen kam. Besonders liebevoll klangen die Zeilen nicht, auf der anderen Seite hatte sie ein Wiedersehen in Aussicht gestellt. Eine Zeitlang wusste Ryszard nicht, wie er sich verhalten sollte, doch je mehr Zeit verstrich, je klarer wurde ihm, was er wollte. Nach der nächsten Barackenbesprechung ging Ryszard zu Bartek dem Vorabreiter und kündigte seine Verpflichtung zum nächstmöglichen Termin. In Nowolipie warte eine Braut auf ihn, endlich habe sie sich bei ihm gemeldet. Bartek war nicht erfreut über diese Nachricht, ließ sich aber überzeugen. „Geh in dein Dorf zurück und heirate“, sagte er am Ende. „Vielleicht aber sehen wir uns schneller wieder als du denkst.“

Als Ryszard Nowa Huta verließ, waren schon erste Umrisse der geplanten Stadt zu erkennen. Die Prachtallee war halb fertig, die Arbeiten an den großen Wohnblocks hatten begonnen. Geplant waren geräumige Wohnungen mit Balkonen, von denen aus ihre Bewohner auf Parkanlagen herabsehen würden. Wenn das wirklich der Kommunismus war, dann war er vielleicht doch nicht so schlecht, dachte Ryszard.

Tymon, Gabriel und Oliver schüttelten Ryszard zum Abschied die Hand und wünschten ihm alles Gute. Sie tauschten ihre Adressen aus und versprachen, sich gegenseitig zu besuchen. Wahrscheinlich würden sie sich nie mehr wiedersehen.

„Nicht schlecht, dass du jetzt die Baustelle verlässt“, meinte Gabriel. „In eine paar Jahren wird hier schon wieder alles vergammelt sein.”

„In ein paar Jahren werde ich hier wohnen und dir von meinem Balkon aus auf deine Glatze spucken – falls du da nicht schon im Gulag bist”, widersprach Tymon.

„Gu-Gu-Gulag? Was ist denn das?” fragte Olivier.

 

 

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