Doctorow: Der Marsch

Wie „ein Wesen mit zigtausend Zellen, dass seine Arme wie Tentakel über die Staaten des Südens verbreitet“, wie „eine ganze entwurzelte Zivilisation“, dann wieder „wie eine  große Herde in aller Ruhe äsender Wiederkäuer“, so bewegt sich die Unionsarmee von General Sherman durch Georgia, South Carolina und North Carolina und  durchschneidet 1864/5, im letzten Jahr des amerikanischen Bürgerkrieges, das  Territorium der rebellischen Konföderation. Requisitionskompanien durchziehen die Ebenen, plündern Farmen und Dörfer, verfolgt von Freischärlern, die die Furagiere wo immer es ihnen gelingt,  gefangen nehmen und lynchen. Uralte Familien verlassen ihre Herrenhäuser auf überladenen Karren,  ohne zu wissen wohin sie sich wenden sollen. Auch ihre Sklaven packen ihre Habseligkeiten und folgen in einem gewaltigen Elendstross der  Nordstaatenarmee, die wie ein großes Kehrblech die Reste der regulären Südstaatentruppen Norden treibt, wo die überlegene Macht von General Grant nur auf sie wartet, um sie zu vernichten.

Inmitten dieses Infernos versuchen ganz unterschiedliche Menschen so gut es nur geht zu überleben, und es beweist die Meisterschaft des Autors, ihre Geschichten und Erlebnisse so miteinander zu verweben, dass für den Leser das Gesamtpanorma des Geschehens nicht nur aus der Vogelperspektive sondern auch aus der Perspektive der Beteiligten anschaulich wird.  Da ist die Farmertochter Emily Thompson, die es nach dem Tod ihres Vaters an die Seite des Nordstaatenarztes Sartorius Wrede verschlägt, einem fanatischen Forscher, der die Verstümmelten auf seinem Operationstisch als Inspirationsquelle für den medizinischen Fortschritt missbraucht. Da ist die weiße „Negerin“ Pearl Jamesson, der Spross eines Südstaatenkonkubinats, die sich eine Zeitlang als Trommlerin und als Krankenschwester durchschlägt, da sind die Deserteure Will und Arly, die pausenlos die Uniformen wechseln, um den Hinrichtungen zu entkommen – bis sie ihr Schicksal schließlich doch ereilt. Da ist die ehemaliger Sklavin Wilma und der schwarze Nordstaatensoldat Coalhouse Walker, die in die großen Städte des Norens ziehen wollen. Wir erleben den hässlichen Offizier Kilpatrick, der den Südsattantefrauen nachstellt und schließlich  General Sherman selbst, ein labiles, geniales, asthmatisches Genie, den seine Soldaten als „Onkel Billy“ verehren.

Sie alle und noch viele andere mehr  spielen ihren privaten Part im „großen Marsch“, in dessen Verlauf Georgia und die Hauptstadt Savahnnah erobert werden, ehe die Armee die Sümpfe Südcarolinas durchquert und Columbia, die Hauptstadt der Konföderation, niederbrennt, Nach der letzten großen Schlacht von Bentonville endet der Krieg,  der Süden kapituliert, und General Sherman und General Johnston, beide Absolventen von West Point, verhandeln mit vollendeten Manieren über die Bedingungen der Kapitulation.

Soweit die Handlung. Wie aber wurde diese Darstellungsaufgabe literarisch gemeistert? Eigenwillig wie ich meine. Doctorow scheut keineswegs, gleich hundertfach, für ein oder zwei Absätze mal schnell in die Innenwelt eines Handlungsträgers hinein zu fahren, so dass die Figuren charakterlich flach bleiben und dem Treibgut eines Großen Strom gleichen, das mal an dieser, dann an jener Stelle kurz sichtbar wird, um dann ebenso folgendlos wieder zu verschwinden.  Aber das macht nichts, denn im Zentrum des Romans stehen  keine Personen sondern eben „der Marsch“ oder die große Armee, die wie ein gefräßiges Monster den Krieg exekutiert, eine  Konstruktion, die in einem rasanten und geradezu comicartigen Erzählrhythmus entfaltet  wird und den  Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.

Nur ganz vage, fast verschwommen werden die Motive angedeutet, die Millionen Menschen dazu bewegten, sich in diesem Krieg zu engagieren: es geht um den  Zusammenstoß zweier Welten, der städtisch-modernistischen Mentalität des Nordens und der feudalen Gefühlslage des alten Südens,  meisterhaft fokussiert in der Ansprache eines  Farmers aus South Carolina an seine Sklaven, die von den Unionssoldaten eigentlich befreit werden sollen und dann doch mehrheitlich bei ihrem alten Massa bleiben. (S. 252/253)  Besser kann man die Antagonismen und die Paradoxien der heraufziehenden neuen Wirklichkeit kaum darstellen. Der lange Marsch ist noch lange nicht zu Ende.

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