Eco: Baudolino

Längst hat man eingesehen, dass das Mittelalter nicht nur eine Zeit der Fabeln und der Wunder, sondern auch der „ferne Spiegel“ unserer heutigen Welt ist, eine magische Epoche, durch deren Wunderlichkeiten für den, der sehen kann, die Strukturen unserer Zeit durchschienen. Diese Doppelbödigkeit hat Umberto Eco schon im „Namen der Rose“ sichtbar gemacht, und auch „Baudolino“ ist ein Versuch, dem modernen Menschen einen mittelalterlichen Spiegel vorzuhalten.

Ein italienischer Bauernjunge, der von Kaiser Friedrich Barbarossa adoptiert, bei Otto von Freising in die literarische Lehre geht, in Paris studiert, am dritten Kreuzzug teilnimmt und als Augenzeuge der Zerstörung Konstantinopels tief in die politischen und geistigen Umbrüche seiner Zeit verwickelt wird –  das ist der Held des vorliegenden Buches, das den Leser fast durch ein ganzes Jahrhundert europäischer Geschichte führt. Baudolino ist aber nicht nur ein Korken, der auf dem Strom des Geschehens tanzt, erstaunlicherweise ist er auch ein Gestalter der Weltgeschichte, eigentlich ein Mythenbilder ganz großen Stils, dem wir nach Ecos Darstellung viele der mittelalterlichen Mystifikationen verdanken, allerdings ein Gestalter, der im Hintergrund bleibt und wie eine Spinne Legende auf Legende aus sich herauswebt – sei es Kunde von den Heiligen Drei Königen, die Gestalt des Archipoeta, die Bundeslade, der Gral, die Sage vom Priesterkönig Johannes oder die Geschichte vom Tod des Kaisers auf dem Kreuzzug – der staunende Leser erfährt in der rückblickenden Erzählung des Protagonisten, dass all das, was er als „mittelalterlich“  einzustufen gewohnt war, zu einem großen Teil der Fabulierlust eines ehemaligen Bauernknaben entsprang. Das ist amüsant und hochgelahrt geschrieben – mehr noch: es wirkt wie ein Gleichnis  auf die Geburt der  Historiographie aus dem Geist der Phantasie, dargestellt an der Geschichte einer Wendezeit.

So weit das Konzept, das der Autor nur teilweise umsetzt.  Spätestens nach der Lektüre des halben Romans beginnt das Interesse des Lesers zu erlahmen. Es geschieht nichts wirklich Überraschendes oder Spannendes und was geschieht, kann der, der sich in der Kultur des Mittelalters ein wenig auskennt, voraussehen – und wer sich nicht auskennt, wird einen Großteil der geistreichen Anspielungen und Konstruktionen gar nicht verstehen und genießen können. So bleibt am Ende ein zwiespältiges Gefühl: wer ohne sonderliche Vorkenntnisse einen atmosphärisch dichten und geschlossenen Einstieg in die mittelalterliche Welt  erwartet, ist mit Ken Folletts „Die Säulen der Erde“ besser bedient – für fortgeschrittene Fans des Mittelalters aber ist das Buch nur leichte Kost.

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