Erpenbeck: Aller Tage Abend

Wer hätte sich nicht schon des Öfteren gefragt, wie sein Leben abgelaufen wäre, wenn ihm dieses und jenes nicht widerfahren wäre? Meist imaginiert man dabei positivere Verläufe der eigenen Biografie und vergisst, dass alles noch hätte viel schlimmer kommen können. Zwischen diesen Trassen der reinen Möglichkeit entwirft der vorliegende Roman ein faszinierendes Vexierspiel von was wäre gewe- sen, wenn…“ am Beispiel einer jungen Frau, der die Autorin mit Hilfe der literarischen Einbildungskraft dazu verhilft, ihren eigenen Tod gleich viermal zu überleben.   Der Roman beginnt im Jahre 1902 in Galizien gleich mit dem ersten Tod. Die weibliche Hauptfigur ist gerade im Alter von nur acht Monaten gestorben. Der Vater verzweifelt über diesen Verlust und wandert nach Amerika aus, seine Frau sinkt zur Prostituierten herab.   Dann die Überraschung. In einem “Intermezzo” wird zunächst im Konjunktiv von einem Überleben des Babys durch die rettende Tat der Mutter und damit einer gänzlich anderen Weiterentwicklung der Familiengeschichte fabuliertt. Plötzlich befinden wir uns im 2, Kapitel, genauer gesagt,  im Wien der Nachkriegszeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie. Die im ersten Teil als Baby verstorbene Tochter ist inzwischen ein junges Mädchen und kämpft mit ihrer Familie inmitten eines eindringlich beschriebenen Versorgungselendes um das nackte Überleben. Als auch noch Liebeskummer hinzukommt, begeht die junge Frau – verleitet durch einen ebenfalls liebesbekümmerten jungen Mann – Selbstmord. Wir schreiben das Jahr 1919.

Im zweiten “Intermezzo” wird über die zahlreichen Zufällig-keiten räsoniert, die zum Selbstmord der jungen Frau geführt haben. Ein einziges Detail zu wenig, und der Selbstmord hätte nicht stattgefunden. So also überlebt die junge Frau, tritt im 3. Kapitel in die kommunistische Partei ein und flieht in den Dreißiger Jahren vor dem Nationalsozialismus in der Sowjetunion. Obwohl sie viele Unschuldige der stalinistischen Mordmaschinerie hat zum Opfer fallen sehen, obwohl ihr eigener Mann verhaftet wurde, wird die inzwischen als Literatin bekannt gewordene „Genossin H“. am Kommunismus nicht irre. Vergebens – sie wird in ein sibirisches Arbeitslager verschickt, wo sie elend erfriert. Wir schreiben das Jahr 1941.

So wäre es gewesen, wenn nicht, ja wenn nicht einer der zahlreichen kommunistischen Henkerbürokraten ihre Akte immer nur auf die linke, die Todesseite gelegt hätte. Nun legte aber einer dieser Henker ihre Akte auf die andere Seite (“Intermezzo3”), so dass die Protagonistin  als Überlebende der Säuberungen nach dem 2. Weltkrieg aus der UdSSR in die DDR übersiedelt, wo sie Ulbricht-Staat literarisch reüssiert. Um  1960 ist sie dann die Treppe heruntergefallen und gestorben.

Das vierte “Intermezzo” deutet nur kurz an, wie leicht der Treppensturz hätte vermieden werden können. Also lebt die Genossin H weiter und erlebt als uralte Frau 1989 die Verwandlung des „Ostvolkes“ in ein „Westvolk“.

Der literarische Ruhm der Parteischreiberin, die noch kurz vor dem Mauerfall den höchsten Literaturpreis der DDR erhalten hatte, verschwindet mit dem Zusammenbruch der DDR im Okus der Geschichte. Umgeben von uralten und kranken Menschen beginnt ihr im Altenheim die Erinnerung zu entgleiten, sie fühlt sie sich „eingesperrt in ihr Alter wie in einem Gefängnis“ (259) und stirbt einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag im Jahre 1992. Damit endet das Buch.

Erzählt wird der Roman in einer besonderen, raunenden Art – fast so, als würde der Rabbi an der Gebetsmauer eine unendliche Folge von Haupt-, Halb- und Nebensätzen von sich geben. Mehr noch: die Sprache besitzt etwas Litaneienhaftes. Immer wieder wird der Text unterbrochen (man könnte auch sagen: überhöht) durch Passagen mit regelrechten poetischen Anrufungen – etwa über das Alleinsein, die Angst oder die Welt am anderen Ufer . Darüber hinaus ist das Buch voller kurzer, fast aphoristischer Anmerkungen, die viel zu schade zum Überlesen sind – zum Beispiel:  „Merkwürdig, denkt er, dass man ausgerechnet den Ort als toten Winkel bezeichnet, der einem, um etwas erkennen zu können, zu nah ist.“ Soweit die Sprache. Wie aber ist die Umsetzung des außergewöhnlichen Plots inhaltlich gelungen? Vor allem im ersten und zweiten Kapitel werden – eben durch das fiktive Überleben der Hauptperson – differente Entwick lungsgänge beschrieben, was dem Leser durch die Brechung der Betrachtungsebenen ein reizvolles und Leseerlebnis beschert. Ab dem dritten Kapitel aber wird die Grundidee des Buches merkwürdigerweise nicht mehr so konsequent angewendet wie in den beiden ersten Kapiteln – die Technik der „Intermezzi“ nutzt sich ab, und der Roman verwandelt sich von einer Fabel von fünf sich überlagern-den Leben in eine Sammlung von Kurzgeschichten, die immer weniger miteinander zu tun haben, je mehr sich der Roman dem Ende nähert. Auch die inhaltliche Intensität, die das Buch in den ersten beiden Kapiteln auszeichnete, lässt im dritten Kapitel nach, um im vierten und fünften Teil dann vollends abzu-flachen. Mich jedenfalls hat spätestens ab dem vierten Teil, in dem die Genossin H. zur Staatsdichterin wurde, das Interesse an der Figur verlassen. Wenn sie wirklich so reflektiert war, wie es dem Leser der erste Teil des Romans nahelegt, muss ihr doch spätestens in Moskau oder Ostberlin die Negierung der kommunistischen Ideale durch die kommunistische Praxis zum Problem werden. Aber nichts davon. Am Ende ist sie eine schrullige Tante, die  das Alltagsleben im Oststaat vorsichtig verklärt.

Besonders gelungen finde ich dagegen die Behandlung des Antisemitismus in dem vorliegenden Buch. Ihre Herkunft, „in die sie eingesperrt war wie einen Käfig“(S.96) ist die Schneise, die ihr den ebensweg nach Moskau und Ostberlin bahnt und damit eine jeder Notwendigkeiten, über die der Zufall, der ihr die vier Leben bescherte, gerade keine Macht besaß.

Man sieht, ein komplexes Werk, an dem man das eine oder andere kritisieren kann, was seinen Rang aber nicht mindert. Die Autorin hat inmitten des literarischen Allerleis ein markantes Werk mit einem außergewöhnlichen Plot und einer unverwechselbaren Sprache geschaffen, das die Lektüre auf jeden Fall lohnt.

 

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