Exzerpt der Autobiografie von Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug

Manch einer, der wie der Rezensent noch die glücklichen Jahre der alten Bundesrepublik miterlebt hat, fragt sich angesichts des gegenwärtigen Desasters: Wie hat es soweit kommen können. Zuerst war es nur ein mediales Dauerjucken, ein unangenehmer Aufmerksamkeitsräuber, was man vom linken Treiben am Rande seiner normalen Lebenswelt wahrnahm. „Das wird sich schon auswachsen“, mochten viele gedacht haben. Aber es wuchs sich nicht aus, sondern aus dem Jucken wurde eine gesamtgesellschaftliche Gürtelrose mit letaler Perspektive. Nun ist es fast zu spät, und forscht nach der Genese des Desasters. Das vorliegende Buch des Germanisten und  Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen bietet Materialien für eine Antwort auf diese Frage, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist es eine exemplarische Biografie einer westdeutschen Jugend und akademischer Karriere mit selbstverständlicher Linksorientierung.  Sodann markiert sie schon in frühen Stadien Wegmarken der linken Machtübernahme und schließlich, das sei ausdrücklich hinzugefügt, ist sie nicht ganz ohne Hoffnung, denn gerade an Lethens Beispiel zeigt sich, es ihn noch gibt: den unabhängigen und brillanten linken Geist der zu viele Moden hat kommen und gehen sehen um sich noch Scheuklappen oder Narrenkappen aufsetzen zu lassen.

Details: Aufgewachsen in Mönchengladbach (München Gladbach) Sirenen vor Fliegerangriffen, das Detail im April 1945, als ein alliierter Flieger auf den kleinen Helmut und zwei Mitbadende  Bombe abwirft (Piloten als ehemalige Kriminelle aus Sing Sing)   Dann der harte Winter 46/47 und das Fischen der Besatzungssoldaten mit Granaten. Volksschullehrerin Zundel schlägt den Schülern mit dem Lineal auf den Fingern, andere ziehen an den Schläfenhaaren. Vater war Leichtathlet, seit 1928 Gefolgsmann der NSDAP, Soldat an der Westfront, kam 1947 mit einer Dose Kakaopulver heim und musste sich in eine Familie einfügen, in der auch der Geliebte der Mutter lebte. – Mutter ansonsten vorbildliche Trümmerfrau, Hoch moralische Fünfzigerjahre, zwei Lehrer werden suspendiert, weil sie außereheliche Beziehungen unterhalten, ein junger Lehrer verliert seine Stelle, nachdem er Brecht  im Unterricht behandelt hatte, ein Besuch des Wallraff Richards Museums in Köln geht in die Hose, weil die Schüler in den Trümmern vor dem Museum Pornohefte entdecken. Dann der Schock im Jahre 1957: Lethen sieht als 18jähriger einen Film über Ausschwitz, der sein Leben verändert. Andere prägende Eindrücke: „Soweit die Füße tragen“ und die Nachrichten vom Ungarnaufstand, ebenso „Stiller“ von Max Frisch und „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, Abitur 1959 „Meine Abschiedsrede auf der Abiturfeier handelte von der Bedrohung der Baumwollindustrie meiner Vaterstadt durch italienische Importe und von dem Glück in Westdeutschland zu leben, während den Abiturienten in der Zone das Leben schwer gemacht werde. Ein westdeutscher Musterschüler trat ab.“(S.61)

Bei einer Wehrübung in Süddeutschland hört er, wie aus einem Lautsprecher in einem Dorf eine Frau öffentlich aufgefodert wird, ihre Steuerschulden zu zahlen, Die Uniform hilft ihm bei der Bewerbung für die Studienstiftung des deutschen Volkes, ansonsten waren Uniformen für die Mädchen eine Lachnummer. Seine Ergebnisse als schlechtester Schütze der Kompagnie  quittiert er mit der Bemerkung „Ich schieße halt human“. Als Reserveoffizier lässt er seine Gefreiten in der Nacht antreten, um ihnen was über Stauffenberg zu erzählen (Damals offizielles Verbot, in der Bundeswehr, der Personen des 20. Juli 1944 zu gedenken – stimmt das?)

Ab 1960 Student in Bonn, Begegnungen mit dem 80 Jahre alten Theodor litt („Hinaus“ als eine Studentin zu spät kommt) und dem Germanisten Richard Alewyn, dessen  Eichendorff Text  einer der Ursprünge von Lethens „Verhaltenslehre der Kälte“ wurde. ) Lethen ist fasziniert durch Walter Benjamin („Die Geburtsstunde des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit.“) Weitere Lektüren: Günter Grass, Uwe Johnson, Thomas Manns „Zauberberg“.

Reisen nach Irland, Übersiedlung nach Amsterdam, wo er seine Frau Loes kennenlernt – Lektüre von Alexander Mitscherlich „Die vaterlose Gesellschaft“, in dem er einen eigenen Vater ganz und gar nicht wieder erkennen kann. 1964 Heirat mit Loes, Bekanntschaft mit Strawinskys „Petruschka“ (trotz des Adorno-Verdikts)  Lektüren Riesman „Die einsame Masse“, Gorer „Die Amerikaner“, er schwärmt für die Beatles (muss aber später bei den Linken in Berlin als Fan zu den „Rolling Stones“ wechseln) In Berlin Bekanntschaft mit Herbert Marcuse und Wilhelm Reich und „einem Mann namens Habermas“,   rebellische Stimmung nimmt zu , erster Kontakt mit der  Szene im „Argumentclub“ in Dahlem, Erste Erfahrungen bei Demonstrationen, Kurzstreckensprints, die „heilige Jacke“ von Rudi Dutschke, die er für zehn Minuten tragen darf. Alles in allem rückblickend glückliche Jahre in Berlin, um dreierlei kreisten: (1) das Kennenlernen der Geheimnisse der Väter, (2)  die lustvolle Motorik der Demonstrationen und (3) die Popmusik als Lebensmedium.Der Autor durchstreift die  Antiquariate, liest Raubdrucke und tauscht mit einem Arbeiter seinen Döblin gegen eine Leninausgabe (von mir: ein schlechtes Geschäft) . Erlebnis des 2. Juni 1967 (Abends nach einer Verfolgung durch Polizisten „Ich weiß jetzt, was Faschismus ist“), die Dissertation bei Ossip K Flechtheim scheitert beinahe,  Geburt des Sohnes Joshua, nach der Promotion ab 1970 Lehrertätigkeit zusammen mit Peter Schneider an der Gabbe Schule („Ratschlag zweier Deutschlehrer an ihre zurückbleibenden Schüler“), von der sie aber wegen unzureichender Aufgabenstellungen fliegen. Weiterarbeit an der neu gegründeten „Freien Schule“, dort Kontakt mit dem jungen Kommunisten Rüdiger Safranski. Merke:  In dieser Zeit beginnt bereits das Sprengen missliebiger Veranstaltungen, erstmalig am 8. Oktober 1968 anlässlich eines Goethevortrages von Albrecht Schöne. 50 Jahre später hielt Albrecht schöne einen viel beachteten Vortrag über „die dunklen Seiten von 68“ (die im Buch nur sehr zart erwähnt werden). Immer intensivere Teilnahme an der so genannten „Ad-hoc Gruppe Germanistik“ und ambivalente Kontakte zum „Institut für vergleichende Literaturwissenschaft“ des linken Germanistenstars Peter Szondi (Überfall auf dessen Institut, trotzdem empfiehlt Szondi Lethen für eine Professur nach Bremen, was aber scheitert – vgl. damals schon die beherrschende Stellung der KPD und des MSB in den Universitätsgremien – Szondi Selbstmord 1971)  1968 werden SDS Leute von den Siemens-Erben in ihr Luxushaus nach Italien eingeladen und dort mit dem Historiker Hans Mommsen zusammengebracht. Dieser Dialog platzt, als am nächsten Tag bekannt wird, dass die Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschiert waren (für den SDS war Dubcek ein „zweifelhafter Reformer“) Treffend zur Kennzeichnung der Gesamtatmosphäre dieser Jahre: „Man versteht das Glück der Erinnerung an die sechziger Jahre (…) vielleicht besser, wenn man als Schüler die Stickluft des innenpolitischen Klimas der Adenauerzeit atmen musste. In verschiedenen Archiven einzudringen, Antiquariate zu durchkämmen, Schulbücher zu säubern, bei französischen, chilenischen und amerikanischen Studentinnen unterzuhaken und im gleichen Zeitraum eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die Neuland erschloss, das war reines, das heißt, arbeitsintensives Glück“)

Das Buch ist nicht ganz frei von langatmigen Internas der linken Szene, etwa der Kontroverse um die Adorno-Interpretation eines Baudelaire-Textes von Walter Benjamin (Zeitschrift „Alternative“). 1970 wird Lethen Mitbegründer der KPD/AO, einer maoistischen Splittergruppe (Mao-Lektüre im Schatten der absoluten Unkenntnis dessen, worüber man spricht),   1971 bis 1975 Mitglied im Kampfkomitee der „Bethanienkampagne“, in der es um die bessere medizinische Versorgung in Berlin Kreuzberg geht. Man wollte die Gentrifizierung verhindern, die aber ohnehin nicht stattfand weil in die nicht abgerissenen Häuser türkische Gastarbeiter einzogen. Wegen bürgerlichem „Versöhnlertum“ und „Angst vor den Massen“ wird der Autor 1975 aus der maoistischen KP ausgeschlossen, Reflektionen über die unglaubliche Erfahrungsleere der Aktivitäten von dem wahren Verhältnisse in China (damals Sturz der Viererbande durch Deng). Danach fühlt sich der Autor eine Zeit lang als Renegat sehr unwohl, liest Koestler und Merleau Ponty und findet Trost bei Enzensberger ( Bestandteil des totalitären Denkens sei, dass den „Beifall von der falschen Seite“ mit einem Fluch belegt) Von 1971 bis 1976 nicht lehrstuhlgebundener Assistent an der Berliner FU. Eine Berufung nach Marburg, dem Wespennest des orthodoxen Marxismus und dem Reich des Marxisten Wolfgang Abendroth, scheitert (dem MSB war Lethen zu links). Aus einem Angebot von Helmut Becker, Lehrer an der pädophil verseuchten Odenwaldschule (Wertung von mir) zu werden, wird zu Lethens Glück auch nichts (dazu kein Kommentar im Buch). Die Mitarbeit an den „Berliner Heften“  bringt den Autor in Kontakt mit der Kontroverse um die Baader-Meinhof Bande, Streit um die Gewaltaktionen der RAF – langatmige Schilderungen der binnenlinken Diskussionen über Glucksmanns „Meisterdenker“ und die Frage, ob Max automatisch zu Stalin führt). Suche nach dem langsam abhandengekommenen revolutionieren Subjekt, erste Erfahrungen mit dem Feminismus. Ab 1976  Übersiedlung nach Holland,

Fazit: das zweite Kapitel bietet Materialien zu Binnengeschichte des linken Denkens, es überrascht die Vielfalt der Namen, die später zu den Etablierten gehören werden, Absoluter  Wahrheitsanspruchs bei völliger Erfahrungsabstinenz (China), man ist überrascht, nirgendwo spürbaren Widerstand des alten Mainstreams gegen die sich schon andeutende Linksverschiebung zu finden.

  Mitunter peinigt die Lektüre mit knochentrockenem Jargon etwa „“Das Eintauchen in die Bilderwelten des Transitorischen und der Reiz der von der Pluralisierung des Subjekts ausgeht, war sicherlich auch ohne Strukturalismus zu haben.“ An dergleichen Sätzen herrscht im vorliegenden Buch kein Mangel. Aber da muss man durch, es gibt ja auch Heiteres (wenngleich wenig) Außerdem ein Übermaß an  inneruniversitäre Geschichten mit endlosen Namenslisten von Fliegenbeinzählern, mit denen der normale Leser nichts anfangen kann, Titanen kämpfen im Wasserglas,

Nach der Übersiedlung nach Utrecht ab 1976 langsame Entfremdung von seiner Ehefrau, neue  Freundinnen. Lethens philosophische Arbeiten finden kaum Resonanz, da die Niederlande auf den englischen Sprachraum ausgerichtet sind. Teilnahme an internationalen Tagungen, auf denen er in Padua Watzlawick und Luhmann kennenlernt „Ich war ein kleiner Fisch in der Gelehrtenwelt Paduas, und das Abhapseln der berühmten Namen kann eigentlich nur mitteilen, dass ich in dieser Welt nicht zu Hause war. Aber immerhin genoss ich als Randfigur die Freiheit des Austausches, fern von den Haifischbecken der deutschen Universität“ Umzug in die schreckliche Trabantenstadt Bijlmer in der Nähe von Amsterdam, einem Hotspot des Drogenhandels und der Kriminalität, der Kakerlaken und der Einsamkeit. Zu allem Unglück waren psychisch Kranke im   in Bijlmer einquartiert worden. Frauen arbeiten in Bijlmer  wahlweise als Prostituierte oder Sozialarbeiter. In dieser Stimmung schreibt der Autor in Anlehnung an die Gedanken Plessners „Lob der Kälte“.  Immer mehr erscheint „Kälte“ als Metapher nicht für einen „Verlust an Wärme“ sondern als Raum- und Distanzgewinn für den produktiven Geist. Aus diesen Überlegungen entsteht zwischen 1989 bis 1993 die „Verhaltenslehre der Kälte“. Sie wird ein Riesenerfolg und neben Richard Sennetts Buch gegen „Die Tyrannei der Intimität“ als ein längst fälliger Protest gegen die Betroffenheitskultur wahrgenommen (Süddeutsche: „Kultbuch“). Obwohl sich das Buch mit der Wirklichkeit der Intellektuellen zwischen den Weltkriegen am Beispiel von  Brecht, Plessner, Jünger, Carl Schmitt und anderen beschäftigt, kann es auch als Anleitung zum richtigen Benehmen gelesen werden. Es offeriert Spielregeln der Distanz, mit denen Probleme, die sich aus verletzenden Nähe-Verhältnissen ergeben,  überwunden werden können.  Witziger Kommentar seiner Lebenspartnerin Helga: „Das Buch hast du sicher mit dem Hintern auf der Heizung geschrieben.“

Im Herbst 1989 Vortragsreise über das Kälte-Buch durch die USA, dabei erfährt er vom Fall der Mauer aus dem Fernsehen (Merke: „Weltmarkt als Subjekt der Geschichte“) Dabei Bemerkung: „Ossis sind träge und warten auf den Energietransfer aus dem Westen“. (Lethen in den USA sehr höflich ausgeraubt, 120 Dollar, der Autor beschreibt diesen Vorfall, als gehöre er zur Folklore einer USA Reise))

Vierter Teil beginnt mit der Berufung nach Rostock 1995 und den Verhandlungen zu Gehalt und Unterkunft, Zum ersten Mal Erwähnung der Studentin Caroline Sommerfeld, einem scheuen Mädchen mit Furcht vor Menschenmassen, das aus einem sozialliberalem Elternhaus stammte und war fest eingewurzelt war in der jungen ökologischen Bewegung, 1997 verkündet Lethen öffentlich, dass er mit der Studentin Caroline Sommerfeld zusammenlebe, was voll ok war (Vgl. den Unterschied zu den Fünfziger Jahren).  Kurz darauf Promotion Sommerfelds,

2004, bei Lethens Abschied aus Rostock spricht Safranski

2001 Gedanken zu den beiden Wehrmachtsausstellungen, die erste (wissenschaftlichen inkorrekte) Ausstellung erscheint dem Autor sinnvoller, da aufrüttelnder (??)

2001 beim Anschlag auf die Twin Towers von  York erlebt der Autor als Problem des Begreifens. Das Faszinierende besitzt noch keine „Codierung“ und ist nur „roh“ gegenwärtig („gedankliche Lehre nach den Horrorbildern“, „Situation der Lähmung“, „Delirium des schieren Erstaunens“)

2007 wird Lethen im Alter von 68 Jahren Direktor des Internationalen Forschungszentrums in Wien, dessen Aufgabe: Förderung des akademischen Nachwuchs (Fellows), Wiener Impressionen, Opern und Theater die kleinen Kinder des Ehepaares Sommerfeld-Lethen Kinder gehen in die Waldorfschule. Caroline singt in einem Chor unter der Leitung eines  türkischen Dirigenten und kocht in der Küche der Waldorfschule vegetarische Gerichte.

Interessante Anmerkungen zum Unterschied von britischen „Cultural Studies“ und deutscher „Kulturwissenschaft“, Der britische CS geht es um den Einbezug der  Erfahrungen normaler Leute in die Hochkultur, die deutsche Kulturwissenschaft gärt in einer freischwebenden Blase vor sich hin ( das wird zwar nicht so explizit gesagt, ergibt sich aber aus den Darlegungen des Autors selbst)  In seinem Symposion „Kultur und Evidenz“ geht es um den Charakter der Wirklichkeit, die die Poststrukturalisten bestreiten) Lethen möchte gerne „mehr Wirklichkeit“ in der Kulturwissenschaft und nähert sich der „ontologischen Todsünde“, er hält es mit Gottfried Benn, der den Leib als „metaphysisches Massiv“ beschrieb, der aus sich heraus alle Geheimnisse, Fragen und Probleme hervortreibt.   Analyse eines Bildes von Carl Rottmann „Marathon“: „Die  Gleichgültigkeit der Natur verschluckt die menschliche Geschichte.“

Bei der angestrebten Vermittlung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kommt es immer wieder zu grotesken Situationen, wenn etwa ein GS über den Begriff der Energie im  18. Jahrhunderts forschen will und ihm ein NW zuruft, der sei doch längst veraltet – oder wenn ein Geisteswissenschaftler zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik arbeiten möchte, ohne die dazu notwendige Mathematik zu beherrschen. Weiteres Themen: die Rolle des Wissens in der Kunst (Wissen in der Kunst irrelevant? oder Wissen als Frame der Kunst?)

Ab Seite 344 erzählt der Autor die Geschichte des politischen Erwachens und der  Rechtswendung seiner Ehefrau Caroline, die zu den aktuellsten und interessantesten Passagen des Buches zählt. Wie bei Hunderttausenden begann die politische Rechtwendung von Caroline Sommerfeld durch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015, bei Sommerfeld konkret mit der Wahrnehmung von Flüchtlingen in Wien und der Lektüre von „Das Heerlager der Heiligen“ von Jean Raspail. Sie vollzog sich relativ schnell unter dem Einfluss der Schriften des Philosophen Slavoj Zizka und den Autoren der „Sezession“. 2017 veröffentlichte Sommerfeld gemeinsam mit Martin Lichtmesz „Unter Linken leben“. Das gesamte sozialliberale Umfeld ist über diese „Kehre“ entsetzt, vor allem, als sich Sommerfeld im Anschluss an Armin Mohler gegen die „Schuldkultur“ der Deutschen wendet und diese als Ergebnis einer Umerziehung bezeichnet. Auch der negative Blick auf die 68er befremden Lethen. Es beginnen in eheliche Streitgespräche über die moralische Heuchelei der Flüchtlingsindustrie. Sommerfeld lehnt die hemmungslose Moralisierung von Einzelschicksalen ab , die pars por toto gesetzt werden. Für sie ist das Flüchtlingskind eine konstruierte, allegorische Figur einer Flüchtlingsindustrie. Sie identifiziert die Stimulierung der unmittelbaren Empathie als Nötigung, die das Denken ausschalten soll. Großphänomenen wie der Flüchtlingskrise wird man ihrer Ansicht nach aber nur in der abstrahierenden Betrachtung gerecht. Obwohl dem Text die Bemühung anzumerken ist, die Argumentation seiner Frau einigermaßen schlüssig wiederzugeben (normalerweise werden sie per Cancel Cultur unterbrückt v.m.),  rückt er sie doch in die Nähe von Verschwörungstheorien, deren Kern der Aufruf zur „Gespensterjagd“ sei (tiefer Staat, Eliten, Soros etc.). Dem Ethnopluralismus unterstellte der Autor eine Tendenz zur „Säuberung“, obwohl das seine Adepten ausdrücklich abstreiten. Rührend geradezu, was Lehten bei seiner Kritik an Rechtsintellektuellen auf Seite 351 schreibt: „Es ist nicht immer leicht, den Gedankengängen der Rechtsintellektuellen zu folgen, wenn sich bei Ihnen die logische Elemente der Gnosis und Apokalypse, Züge von Spenglers Kulturmorphologie und Carl Schmitts Staatstheorie mischen. Auffällig ist, dass, wenn sie über Geschichte nachdenken, die Zeiträume, mit denen sie rechnen, bestürzend klein sind. Im Zeitraffer entwerfen sie Zukunft und Vergangenheit. Das bringt sie den Mythos eines Ursprung so nahe in des Untergangs.“  Würde man die Namen und Bezüge austauschen hätte man eine komplette Beschreibung des linken Denkens. Ein weiterer Dissens zwischen den Ehepartnern dreht sich um den Begriff des „Volkes“. Anstatt der mühevollen Arbeit der Rekonstruktion archäologische Befunde nachzugehen, postuliert die Rechte aus Lethens Sicht  eine mythische Einheit (Germanen-Problem). Unverkennbar fühlt sich Lethen bei den Gesprächen mit seiner Frau auf seine grundlegende Einstellung zurückgeworfen, die er wie folgt beschreibt: “Ich habe unter dem Einfluss von Sandor Ferenczy, Bertolt Brecht, Ernst Jünger, Arnold Gehlen und Helmut Plessner diesen Kälteschock als Voraussetzung für die Entwicklung eines Wirklichkeitssinns begriffen, während ich bei Max Weber gelernt habe, dass die Entzauberung der Welt die Wiederkehr der Götter nicht verhindern wird.“ Implizit wirft er seiner Frau vor,  in das „Wärmebad“ des Ursprungsdenkens zurückzufallen und damit die Zusammenhänge  schrecklich zu vereinfachen. Von mir. Es wäre der Überlegung wert, ob Lethen in Gestalt seiner Frau nicht eine Vertreterin jener Wirklichkeit gegenübertritt, die der dekonstruktivistische Zeitgeist in seinen Fantasmagogien mehr und mehr zum Verschwinden bringt. Der skandalöse Ausschluss der Sommerfeld Kinder von der Waldorf Schule wir dnur kurz erwähnt

Langes Kapitel über den Brand von Notre-Dame und den Umstand, dass dieser Brand den Autor kalt lässt. Über diese seine Reaktion scheint Lethen fast noch mehr zu staunen, als über den Brand selbst. Reflektionen über „toxische Autoren“, zu denen er auch Houellebecq und den Russen Limonow zählt. Wieder viel Dissens  im Hause Sommerfeld-Lethen über die Bedeutung des Brandes. Ablehnend zitiert der Autor die Deutung von Martin Lichtmesz als „Menetekel“, wobei diese Deutung dem Leser mehr einleuchtet als der Verweis auf andere Mentekel der europäischen Geschichte. .

Nachdenken über Identität, möglicherweise handelt es sich um einen Schwundbegriff, der immer dann auftauche, wenn der Sachverhalt die er beschreibt, im Verschwinden begriffen sei. Für den Poststrukturalisten ist Identität ein Sammelbegriff für die zahlreichen Kostüme geworden, die der Mensch im schnellen Wechsel an- und ablegen kann. „Ein sonderbar ästhetischer Reiz geht von der Vorstellung aus, Identität  sei eine Montage aus Puzzleteilen des Nichtidentischen« Er zitiert zustimmend Poststrukturalisten, die die  Zumutungen der Komplexität des Lebens als „Bereicherung“ anpreisen. Merkwürdig, dass hier auch nicht in Ansätzen von einer möglichen Überforderung des Menschen die Rede ist – und das, obwohl doch auch bei Plessner von den Notwendigkeiten de Eingebettetseins die Rede ist (von mir).

Retrospektive Deutung der Achtundsechziger Bewegung. Während Klaus Haltung glaubt, die Achtundsechziger habe das Potenzial, dass in ihr gesteckt habe, nicht restlos verwirklicht, scheint der Autor ganz froh zu sein,  dass dieses Potenzial durch den Widerstand in der Lebenswelt gebrochen worden sind.

Am Ende: Ansätze zu einer biografischen Selbstbespiegelung: der Autor begreift sich als  Angehörige einer traditionsunfähigen Generation. Im Anschluss an Mitscherlich glaubt er, seiner Generation habe aufgrund der deutschen Katastrophe eine ausreichende Verhaltenslenkung gefehlt, weswegen in die „Unterdruckkammern“ der Subjektivität  Impulse von „Außenheit“ eindringen konnten.  (Zitat „In Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen, als in der Distanz zu sich selbst«)

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