Franzen: Die 27. Stadt

Martin Probst hat den St. Louis Arch erbaut, das große Wahrzeichen des amerikanischen Aufbruchs nach Westen. Die Stadt, in der er das getan hat, war dereinst die viertgrößte Metropole  der Vereinigten Staaten und galt manchen lange Zeit als die natürliche Hauptstadt des Landes. Heute befindet sich   St. Louis, sowohl als Stadt wie als  County, im freien Fall – der stolze Arch ragt über einem Ort, der  auf den Platz 27 auf damit auf den Rang einer amerikanischen Allerweltsstadt abgestürzt ist. Doch  Martin Probsts Bauunternehmen floriert, der Chef ist der Vorsitzende des städtischen Wohlfahrtsvereins und   lebt sein Leben mit schwierigen Verwandten, eitlen Freunden,  missgünstigen Schwägern, skurrilen Geschäftspartnern  und  seiner beachtlichen, aber unzufriedenen Ehefrau Barbara so gut es eben geht. So weit das typische und ungemein treffend beschriebene Personal eines amerikanischen Gesellschaftsromans.

In  dieser 27ste Stadt wird völlig überraschend  die Inderin Susan  Jammu zur Polizeichefin ernannt – und das zu einem Zeitpunkt, als der reichste Junggeselle der Stadt´, Sydney ammackerHam  Hammacker die sagenhaft reiche Indische Prinzessin Aisha aus Bombay heiratet. Da kommt aber Einiges zusammen, denkt der Leser, aber das sollte nur der Anfang sein. Plötzlich tauchen  immer mehr Inder in den Straßen auf, eine indianische Terrorgruppe macht von sich reden, Bomben detonieren, Wälder brennen und  Maschinengewehre rattern in der bis dahin so friedlich vor sich hin schrumpfende Gemeinde. Es dauert eine Weile, ehe der Leser den usammenhang erkennt: Die neue Poliziechefin Susan  Jammu, Prinzessin Asisah, und eine ganze Horde  indischer Finsterlinge haben es sich zum Ziel gesetzt, die ganze Stadt St. Louis in den Griff zu bekommen, und um dieses Ziel zu erreichen, ist ihnen jedes Mittel recht. Donnerwetter, denkt man. Diese Inder. Man kannte sie als Amerikareissender bisher nur als biennfleißige Betreiber von Bed- and Breakfast-Lodges im mittleren Westen. Und nun das.

Jede der beiden Plots hätte ein gutes Buch werden können, entweder ein amerikanischer Gesellschaftsroman im Stile von Updike oder ein solider Thriller ala Ludlum. Zusammen aber stehen sie sich gegenseitig im Weg und enttäuschen sowohl die an literarischen Feinheiten wie die an Mord und Totschlag interessierten Leser. Vor allem die Grundidee der indischen Verschwörung mutet ein wenig an wie die Geschichte vom Satan aus der Kiste, von dem keiner weiß, woher er kommt und warum er überhaupt so böse ist.   Auch der groteskerweise erst nach der 500. Seite (!)  nachgelieferte Lebenslauf von S. Jammu macht die Motivlage einer der beiden Hauptpersonen  nicht plausibler.  Was veranlasst diese unfassbar begabte und von  Indira Gandhi persönlich geförderte Indo-Amerikanerin, eine doch so relativ unbedeutende Stadt wie St. Louis zum Zentrum einer gigantischen  Verwanzungs- und Manipulierungsstrategie  zu machen, wo sie doch daheim ein wunderbares Leben führen könnte? Das wird niemand verstehen. Der Bauunternehmer Martin Probst übernimmt in diesem Handlungsnetz  zunächst die Rolle des Hiob. Da er anfänglich wie der Gegenspieler der bösen Polizeichefin erscheint, bricht das Unglück über ihn herein  ohne das er weiß, welch böser Geist hinter allem steht. Sein Hund wird getötet, seine Tochter zieht aus, seine Kunden machen Bankrott – zu guter Letzt wird auch noch seine  Frau entführt und erschossen. Er  selbst, scheinbar verlassen, verfällt dem morbiden Charme der Polizeichefin, obwohl sie „von der Seite aussieht wie eine Greisin, die keine zehn Jahre mehr zu leben haben wird“. Das wird erst recht niemand verstehen können.  Auf kommunaler und politischer Ebene dreht sich derweil alles nur noch um ein  großes Referendum, mit dem auf  Initiative von Polizeichefin Susan Jammu die Wiedervereinigung von City und County eingeleitet  werden soll, ein Plan, den die einen  heftig befürworten und die andere ebenso heftig bekämpfen.  Welche Vor- und Nachteile dieses Referendum haben soll, wird übrigens auf immer ein Geheimnis des Autors bleiben – aus dem Text und der Handlung heraus ist das für normalintelligente Leser jedenfalls nicht zu begreifen.

So torkelt der große Roman zwischen Gesellschaftskritik und Thriller über Hunderte von Seiten vor sich hin, und man wird nicht sagen könne, dass nichts geschieht.   Firmenchefs verlegen ihre Firmenzentrale vom Land in die Stadt und werden gefeuert, Finanzdezernenten  werden ermordet, und als sei das nicht genug, tappen noch über zwei Dutzend Nebenfiguren  wie Blinde ohne erkennbar poetologische  Funktion durch die weitgespannte Handlung.  Am Ende kommt dann alles anders, als man denkt.  Das Referendum scheitert mangels Wahlbeteiligung, die so unglaublich willensstarke Jammu erschießt sich, Martin Probst, um Hund, Frau und Tochter ärmer, sichtet die Überreste seines Lebens, und der Leser bleibt ratlos zurück. Die Thriller-Elemente und die Erzählweise haben ihn bis zuletzt bei der Stange gehalten, hier und da ist bereits der brillante Autor der „Korrekturen“ zu erahnen, aber insgesamt ist der Roman an seinem unstimmigen Plot gescheitert. Interessant ist der Roman eigentlich nur als biografische Etappe eines Junggenies (Franzen war bei der Veröffentlichung des Romans 29 Jahre alt) am Scheideweg zwischen Philipp Roth und Ken Follett. Das Beste sollte erst noch kommen.

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