Friedrich Sieburg: Nur für Leser. Jahre und Bücher

 Je schnelllebiger die Zeit ist, desto schneller vergisst sie. Reich-Ranicki, der allgegenwärtige Literaturpapst der Achtziger und Neunziger Jahre – wer spricht heute noch von ihm? Umso mehr gilt das für seinen Vorgänger Friedrich Sieburg, einen Literaturkritiker der Extraklasse, den heute praktisch niemand mehr kennt. Er war als maßgeblicher feuilletonistischer Kopf der FAZ lange Zeit vor Reich Ranicki der führende deutsche Literaturkritiker, jedenfalls so lange, bis  die Gruppe 47 in den frühen Sechziger Jahren die literarische Hegemonie errang. Zeitlebens war er ein Konservativer,  und wie vielen Konservativen hat auch er sich einen missverständlichen Flirt mit dem Nationalsozialismus zuschulden kommen lassen. Seine schulbildende Innovation als Kritiker war die Einheit von Buchzusammenfassung und Buchkritik, so dass abschließenden Resümees überflüssig wurden.   Sein Markenzeichen waren ein brillanter Stil und profunde Weltkenntnis, seine  Liebe gehörte Frankreich, dem er sein erfolgreiches Buch „Wie Gott in Frankreich?“ widmete. Zweifellos war Sieburg ein Kulturpessimist, auch wenn er diese Bezeichnung weit von sich gewiesen hätte. Er  sah sich als Kritiker einer desolaten und richtungslosen Literaturepoche, in der, so der Autor, ein aufwändiger Nebensatz bereits ein literarisches Risiko darstellte. Heute sind die Nebensätze egal, wenn nur die Hauptsätze in die richtige Richtung weisen.

  Das vorliegende und in seiner Zeit ebenfalls sehr erfolgreiche Buch „Nur für Leser. Jahre und Bücher“ beschreibt die bundesrepublikanische Literaturszene der späten Vierziger und frühen Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts   Es beginnt mit einer literarischen Miniatur über eine Regennacht  in Shanghai, in der ihm die  „Sehnsucht nach den Büchern“ überkam. Es folgen Betrachtungen über Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“, Heinrich Manns „Ein Zeitalter wird besichtigt“ Maupassant und sein Schülerverhältnis zu Flaubert, Balzac und Hemmingway  und immer wieder Thomas Mann, mit dem die Konservativen damals bemüht waren, ihre  Frieden zu machen. Nach Jahren geordnet, gleicht dieses Buch einem Lehrbuch der Literatur, das auch ganz unabhängig von den jeweils besprochenen Büchern gelesen werden kann. Im Gedächtnis geblieben ist mir zum Beispiel ein Rat, den Flaubert dem jungen Maupassant gab: Auch wenn der Roman als Ganzes dem Autor vor Augen steht, soll er jede einzelne Seite für sich beschreiben, sich an Adjektiven und Personen quälen, als gäbe es kein Morgen. Natürlich enthält das vorliegende Buch auch viele Portraits von Personen, die heute vergessen sind. Wer den Autor deswegen kritisieren möchte, sollte bedenken, dass in spätestens einer Generation auch kein Mensch mehr von Grasnojowa, Schwitters oder Hustved sprechen wird.

Das Inreressante an dieser unzeitgemäßen Lektüre ein Dreivierteljahrhundert nach dem Erscheinen des Buches ist etwas anderes, Sieburg schreibt wie selbstverständlich in einem von unseren Verhältnissen völlig unterschiedlichen Literaturbiotop. Man treibt sich die Augen, wenn man die folgenden Sätze  aus dem Jahre 1952 liest: „Das konservative Prinzip sitzt so fest im Sattel, dass die Toleranz in künstlerischen Dingen sozusagen zu den Attributen seines Hofstaates gehört. Mit anderen und etwas gröberen Worten: die Politik ist rechts und die Kunst ist links.  Diese Verteilung der Akzente gibt unserem Gemeinwesen den von vielen beneideten Ausdruck das Musterhafen.“ Sieburg schrieb in einer generösen kulturellen Hegemonie, die es zuließ, dass in ihrem  Schatten ihr  Gegenteil heranreifen konnte, wie man sehr schön an der Entwicklung der Gruppe 47 nachlesen kann. Heute, wo sich die Machtverhältnisse umgekehrt haben, ist von  Toleranz auf linker Seite keine Rede mehr. Heute sind die Kultur und Staat, die Medien und die Kirchen und sogar die Bundeligavereine stramm links. Ein all umfassendes Linkssein erfüllt die Luft, dass wir einatmen, wo wir gehen und stehen. Eine konservative Figur wie Friedrich Sieburg, dessen Lieblingshelden Charles Lindberg und Eduard VII waren, würde in der Epoche der Cancel Culture keine Bühne mehr finden.  Um so wohltuender ihn heute wieder einmal zu lesen.

 

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