Gerste: Wie Krankheiten Geschichte machen Von der Antike bis heute

Die moderne Strukturgeschichte hat es nicht zu sehr mit den großen Männern. Große Männer, die die Weltgeschichte bewegen, erscheinen in ihrer Perspektive nur als Exekutoren von Prozessen, die sich auch ohne sie durchgesetzt hätten. Wäre Caesar im Jahre 58 vor der Zeitrechnung nicht zum Konsul gewählt worden, hätte eben eine andere Rom erobert. Wäre  Columbus ein Händler geblieben, hätte eben ein anderer Amerika entdeckt. Mittlerweile setzt sich die Überzeugung durch, dass sich in dieser Sichtweise eine erstaunliche Begrenzung der menschlichen Fantasie zeigt. von der Geringschätzung menschlicher Freiheit und der Offenheit der geschichtlichen Existenz ganz zu schweigen. Das vorliegende Buch des Historikers Mediziners uns Journalisten Ronald D. Gerste über den Einfluss der Krankheiten auf die Geschichte belegt diese Kritik in eindringlicher Weise. Es ist nicht nur ein Buch über die Krankheiten der Menschheit, die chronologisch in ihren Grundzügen vorgestellt werden, sondern auch eine faszinierende Parade historischen Konstellationen, in denen Krankheiten dem Lauf der Geschichte eine besondere Richtung gegeben haben. In 55 anschaulich geschrieben  informativen Kapiteln nimmt der Autor den Leser mit auf eine kleine Weltgeschichte der Krankheiten von der Antike bis zur Gegenwart, die mit dem Tod Alexander dem Großen beginnt und dem Herzschrittmacher von Helmut Schmidt endet.

Ein besonders exemplarischer Fall, der die ganze Tragweite krankheitsbedingter Kipppunkte der Geschichte verdeutlicht, ist der tragische Tod Kaiser Friedrich III, der als liberal gesinnter Fürst seine Leben lang auf den Tot seines Vaters warten musste, eher er nach nur 88 Tagen Herrschaft, an Speiseröhrenkrebs verstarb. Mit ihm wurde eine ganze liberale Generation in der deutschen Geschichte übersprungen, durch seinen Tod folgte auf die absolutistisch geprägte Herrschaft Wilhelms I gleich die Autokratie seines problematischen Enkels Wilhelms II. Gar nicht auszudenken wie die deutsche Geschichte verlaufen wäre, hätte ein konstitutionell gesinnter und ausgleichender  Charakter wie Friedrich III das deutsche Staatsschiff vor dem ersten Weltkrieg gelenkt. Ähnliches denkt der Leser wenn er die Krankengeschichte Präsident Woodrow Wilsons verfolgt, der gerade in der entscheidenden Phase der Weimarer Friedensverhandlungen aus Gesundheitsgründen praktisch nicht arbeitsfähig war. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, wie das Beispiel Gorbatschows zeigt. In der Spätphase des sklerotischen Spätkommunismus rafften die Krankheiten von Breschnew bis Andropow  einen Uraltkommunisten nach dem anderen dahin, um dem jungen und kerngesunden Michael Gorbatschow den Weg frei zu machen. Ob die Weltgeschichte wirklich anders verlaufen wäre, wenn Lenin wegen seines. Sklerose nicht daran gehindert worden wäre, mit Stalin  abzurechnen da habe ich allerdings meine Zweifel. An der Spitze eines totalitären Staates stehend hätte sich Trotzki meiner Ansicht nach von Stalin nicht groß unterschieden.

Das ganze Buch ist voller solcher Geschichten. Sein besonderer Wert besteht in der Koppelung der historischen und der medizinischen Perspektive, von dem flüssigen und anschaulichen Stil ganz zu schweigen. Für mich das Geschichtsbuch des Jahres in diesem langen dunklen Winter, in dem wir alle wegen der Corona Epidemie zu Hause bleiben müssen und gute Bücher lesen können.

 

 

 

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