Guterson: Östlich der Berge

Guterson Östlich der Berge„Benommen versuchte Ben zu einer Sicht des Todes zu kommen, die das Scheiden aus der Welt erträglich machen würde Aber so oft er auch darüber nachgedacht hatte, so viele Jahre er sich damit beschäftigt hatte, für dieses Rätsel gab es keine Lösung: vielleicht lag die endgültige Antwort außerhalb seiner Reichweite. Nie brachten seine Grübeleien ihn weiter, und am nächsten Tag war er nur einen Tag älter, nicht klüger, nicht gewappneter. Er fand nichts, was ihn auf den Tod hätte vorbereiten können. Und so wurde er immer älter. Und ließ es mit Staunen geschehen, dass sich die Tage aneinanderreihten. Mal hatte er das Vergehen der Zeit weggeschoben, mal hatte er es unter den Ablenkungen seines Lebens vergessen. Im Hintergrund aber lag immer die Furcht, wie ein Meer, auf dem es nur Inseln der Ruhe, der Arbeit und der Liebe gab.“(S. 297f)
Eines Tages aber ist es dann soweit. Ben Givens, ein erfolgreicher und gerade erst pensionierter Herzchirurg, der erst vor anderthalb Jahren seine Frau verloren hatte, erfährt von seinem Arzt sein Todesurteil: Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium, unheilbar und aller Voraussicht nach so qualvoll, dass seine Leid alle menschliche Tapferkeit weit übersteigen würde. Diesem Tod, der ihn mit all den Schmerzen mit seiner Individualität vernichten würde, will sich Ben Givens jedoch nicht stellen. Ohne dass eine Tochter und seine Enkel etwas ahnen, fährt er mit seinen beiden Hunden und seinem Gewehr von Seattle aus in die verschneiten Berge des östlichen Washingtons, um einen als Jagdunfall getarnten Selbstmord zu begehen. Doch alles geht schief. Zuerst fährt er seinen Wagen auf der rutschigen Straße zu Schrott, dann misslingt ihm die Anmietung eines Mietwagens, bei einer improvisierten Jagd wird einer seiner beiden Hunde von irischen Wolfshunden getötet, der andere schwer verletzt. Selbst schwer angeschlagen und voller Schmerzen, schleppt er seinen Hund ins nächste Dorf zu einem Tierarzt, sein Gewehr hat er in der Auseinandersetzung mit dem Besitzer der Wolfshunde verloren, so dass er sich noch nicht einmal selbst erschießen kann. Ratlos und heruntergekommen wie ein Penner schläft er in billigen Motels und lässt sein Leben an sich vorüberziehen – seine Jugend in den Bergen des amerikanischen Nordwestens, seine Kriegsteilnahme, die Liebe zu seiner Frau, deren Verlust er nicht verwinden kann. Was nun?
Wie es weiter geht, soll in dieser Rezension natürlich nicht verraten werden. Jeden, der die finale Frage nach der letzten Stunde, nach dem Ausgang des Lebens in den Tod interessiert, sei eingeladen, das vorliegende Buch zu lesen. Wer noch jung ist und etwas Zeit hat, sollte die Finger davon lassen. Es handelt sich wie immer bei Guterson um eine literarisch ausgefeilte Geschichte, die mit poetischer Sprachkraft und großer Einfühlung erzählt wird.
Ich habe dieses Buch auf einer Reise durch Washington State mit großer Anteilnahme gelesen. Eine Antwort auf die Frage nach der letzten Stunde habe ich nicht gefunden, aber die Dringlichkeit der Frage ist mir bewusster geworden, als sie es mir früher war.

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