Haitiwaji: Wie ich das chinesische Lager überlebt habe

  Die Geschichte Zentralasiens ist voller Überraschungen. Völker erscheinen, gründen Imperien und verschwinden wieder, als hätte es sie nie gegeben. Ein Volk, dass im achten Jahrhundert an der zentralasiatischen Seidenstraße erschienen und geblieben ist, ist das Turkvolk der Uiguren.  Schritt für Schritt übernahmen sie die politische Dominanz auf der Seidenstraße, zeitweise in Kooperation mit den Mongolen. Nach dem Untergang des mongolischen Weltreiches konkurrierten sie mit den Khanaten der Usbeken, Tadschiken, Kirgisen und Kasachen – bis im 18.  Jahrhundert die Chinesen kamen und Ostturkestan als „Xinjiang“ (Neue Grenze) in ihr Imperium eingliederten.

Im Unterschied zu Usbeken, Kirgisen und Tadschiken gelang es den Uiguren allerdings nicht,  im Zuge der politischen Umwälzungen im späten 20. Jahrhundert ihre staatliche Unabhängigkeit zu erringen. Im Gegenteil: die Provinz Xinjiang, in der etwa zehn Millionen Uiguren leben, ist für China zum strategischen Schnittpunkt der „Neuen Seidenstraße“ geworden. Als rohstoffreiche Provinz mit Grenzen zu sechs Staaten ist die Region als Stützpunkt im Herzen Zentralasiens für die eigenen Weltmachtambitionen unverzichtbar.  Die massive chinesische Zuwanderung nach Xinjiang, die den Bevölkerungsanteil der Chinesen in der letzten Generation von 10 % auf über 40 % hochgetrieben hat und die seit der Jahrtausendwende eskalierende Repression gegen die Uiguren müssen vor diesem Hintergrund begriffen werden.

So weit, so abstrakt. Was das konkret für die betroffenen Menschen bedeutet, verdeutlicht das vorliegende Buch. Gulbahar Haitiwaji, die zusammen mit ihrem Ehemann Kerim und ihren Kindern seit 2006 im französischen Exil lebte  (und die französische Staatsbürgerschaft erworben  hatte) geriet ab 2016  in die Mühlen der chinesischen Umerziehungslager und erfuhr am eigenen Leib die Techniken der physischen und psychischen Zersetzung, an denen sie beinahe zerbrochen wäre.

Schon die Vorgeschichte ihrer Gefangennahme war an Perfidität kaum zu übertreffen. Unter dem Vorwand, notwendiger persönlicher Vorsprache und Unterschriften war Gulbahar Haitiwaji von den chinesischen Behörden im November 2016 nach Xinjiang gelockt worden.  Sofort nach ihrer Ankunft wurde ihr der Pass entzogen, weil ihre Tochter in Paris für die uigurische Unabhängigkeit demonstriert hatte.  Als sie sich weigerte, zu gestehen, dass sie einem terroristischen Netzwerk angehörte, wurde sie  ohne richterlichen Beschluss  20 Tage lang an Armen und Beinen an ein Bett gekettet und anschließend in den „Bunker“, das chinesische Umerziehungslager Baijiantan, eingewiesen.

Der chronologisch aufgebaute Bericht den Aufenthalt im „Bunker“ von Baijiantan bildet den Hauptteil des Buches. Gulbahar Haitiwaji beschreibt darin ein ganzes Arsenal ausgetüftelter Schikanen,  deren Endziel entkernte und willenlose Persönlichkeiten sind, die sich wie die Gefangenen in Kafkas „Strafkolonie“ am Ende bei  ihren Peinigeren auch noch bedanken.  Die Tage vergingen mit schikanösen Sportveranstaltungen, endlosem Absingen patriotischer Gesänge, der Indoktrination gegen den Islam und die uigurische Kultur, Schlaf- und Nahrungsentzug. Eine Mutter, die sich weigerte, ein Geständnis zu unterschreiben, wurde erst gebrochen, als man ihren Sohn im Nebenzimmer folterte. Am beunruhigendsten waren die regelmäßigen Zwangsimpfungen, nach denen bei vielen Frauen die Periode ausfiel. Nach anderthalb Jahren Haft war Gulbahar Haitiwajis Gewicht auf unter 50 kg gefallen, sie litt unter Herzbeschwerden und Lichtmangel, weil pro Woche nur drei oder vier kurze Hofgänge gestartet waren. Erst Ende 2018, nach fast zweijähriger Gefangenschaft, wurde sie in einem Blitzprozess zu sieben Jahren Umerziehung verurteilt.

Nachdem sie im März 2019 wochenlang verhört worden war, brach Frau Haitiwaji ein. Sie gestand, eine chinafeindliche Aktivistin zu sein und ließ  sich bei ihrem Geständnis filmen. Bei ihrem ersten Telefonkontakt mit Frankreich musste sie einen vorher abgesprochenen Text in der Anwesenheit von Geheimpolizisten ablesen. Man zwang ihre Familie in Frankreich, sich aus der öffentlichen Kampagne gegen China zurückzuziehen. Nach einem weiteren halben Jahr Wohlverhalten wurde Gulbahar Haitiwaji schließlich in einem zweiten Prozess für unschuldig erklärt und im August 2019 freigelassen.

In Frankreich aber schlug ihr sofort Misstrauen entgegen. Manche hielten ihr das Geständnis vor und fragten, wie es überhaupt möglich war, dass sie freikam. Das vorliegende Buch, das in Zusammenarbeit mit der Journalistin Rozenn Morgat entstanden ist,  kann auch als Antwort auf diese Anfechtungen verstanden werden. Auf jeden Fall bedeutet die Veröffentlichung dieses ersten Augenzeugenberichtes aus einem chinesischen Umerziehungslager, dass die Autorin sich und ihre Familie in China einem hohen Risiko aussetzt.

Gulbahar Haitiwajis Leidensgeschichte ist eine Dystopie, die in der Gegenwart spielt und die für die Zukunft das Allerschlimmste befürchten lässt.  Denn die chinesische Repression wirkt ungehindert fort. Die Einschüchterung der ausländischen Uigurengemeinden hat weiter zugenommen, weil über die in China verbliebenen Familien Druck ausgeübt wird.  Während in der internationalen Presse immer mehr Belege für die chinesische Repression veröffentlicht werden, wurde China im Oktober 2020 in den UN Menschenrechtsrat gewählt. China, dieses großartige Land mit der ältesten noch existierenden Kultur, ist dabei, an seiner Peripherie einen kulturellen Genozid durchzuführen. Aber nicht nur das – was in Xinjiang erprobt und perfektioniert wird, kommt inzwischen auch bei der Überwachung der eigenen Bevölkerung zum Einsatz.  Ein Leviathan, wie ihn die Geschichte noch nicht gesehen hat, wirft seinen Schatten über die Welt. Umso beeindruckender und tapferer ist das vorliegende Buch.

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