Hollinghurst: Die Schönheitslinie

Nick Guest, ein junger. gebildeter und  gut aussehender Oxfordabsolvent  promoviert über den Romancier Henry James und zieht im Jahre 1983 als Untermieter in das glanzvolle  Haus seines Studienfreundes Toby Fedden. Das Familienoberhaupt Gerald Fedden ist Tory Abgeordneter, seine Frau Rachel ein Traum von einer stilvollen Gattin, die Tochter Catherine ein wenig durchgeknallt. Was keiner von ihnen weiß. Der nette Nick ist schwul bis in die Knochen und erlebt kurz nach seinem Einzug bei den Feddens im Alter von etwa 21 Jahren seinen ersten rauschhaften Sex mit dem Schwarzbriten Leo im Unterholz eines Londoner Parks.  So weit das beachtliche Entree des Werkes. Wie geht es weiter?

Als Freund des Hauses nimmt Nick an diversen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil, auf denen das psychologische Panorama der britischen Oberschicht breit entfaltet wird. Wer erwarten würde, dass man im Stil von Ian McEwan nun Zeuge funkelnder Debatten über England in den Achtziger Jahren, über Sozialismus, Zuwanderung, Neoliberalismus oder die Schwulenbewegung würde, wird allerdings enttäuscht. Dafür sind alle Beteiligten viel zu sehr in ihren eigenen Begierden und Marotten gefangen. Sie bewegen sich wie die Figuren eines kuriosen Panoptikums im Untergeschoss ihrer Begierden, während ihre viel versprechender Sprösslinge in den Obergeschosse hocken und koksen. Nick nimmt an all dem als schüchterner Zaungast teil und  sehnt doch nur die Momente herbei, in denen er sich mit seinem neuen Geliebten Leo entweder in den Gärten von Kensington oder im Kino vergnügen kann.

Im zweiten Teil, der drei Jahre später spielt, ist Leo verschwunden. Nick besucht mit  seinem neuen libanesischen Geliebten Wani Ouradi  eine Schwulenbadeanstalt, auf deren Toiletten man sich gegenseitig die erigierten Penisse zeigt, um dann nach Hause zu einem flotten Dreier abzuziehen. Noch immer wohnt  Nick in dem Haus des Tory-Abgeordneten Gerald Fedden, der inzwischen zum Staatssekretär aufgestiegen ist und den er auf Wahlkampftour in seinem  Wahlbezirk Barwick begleitet. Dort muss sich der schicke Abgeordnete beim Gummistiefelweitwurf „zum Affen machen“, was er aber ebenso gut hinbekommt wie einen von Peinlichkeit durchtränkten Besuch bei Nicks kleinbürgerlichen Eltern.  Höhepunkt des zweiten Teils ist das elfte. Kapitel, eine literarisch-soziologische Urlaubsstudie der Familie Fedden und ihrer Gäste, bei der es sexuell drunter und drüber geht: die Tochter Catherine lässt sich von ihrem Geliebten in der Abstellkammer vögeln, Nick macht das gleiche am nächsten Tag mit dem immergeilen Wani, und sogar der edle Gerald treibt es, allerdings im Verborgenen, mit seiner Sekretärin Polly. Wieder daheim feiern Gerald und Rachel silberne Hochzeit und zur Feier dieses Anlasses erscheint sogar Premierministerin Thatcher und lässt sich vom leicht angekoksten und tollkühnen Nick zu einem Tänzchen auffordern. Diese Szene, in der die Premierministerin wie eine tote Monstranz erscheint, wie ein Spiegelbild all der gesellschaftlichen Einbildungen, die sie umgeben, markiert Nicks gesellschaftlichen Karrierezenit

Der dritte Teil spielt im Jahre 1987 und handelt nur noch von Tod und Niedergang.  Zunächst erfährt Nick, dass der ehemalige Geliebte Leo an Aids gestorben ist. Auch der schöne Wani Ouradi ist mittlerweile unheilbar an Airs erkrankt. Der ehrenwerte Abgeordnete Gerald Fedden wird bei einer Aktienschieberei ertappt, außerdem plaudert  Catherine, die durchgeknallte Tochter, das Geheimnis seiner Affäre mit der Sekretärin Polly aus. Die Skandalpresse nimmt Witterung auf und hängt auch noch Nicks Homosexualität im Haus des Staatsekretärs und  Wanis Aids Erkrankung an die große Glocke, so dass Nick das Haus verlassen muss. Er packt seine Sachen, wirft die Schlüssel in den Briefkasten und verlässt die „leere Straße“ ohne zu wissen, ob er nicht auch bald an Aids erkranken und sterben wird.

Obwohl Hollinghurst Werk von der Kritik hymnisch gefeiert und mit dem Booker Price 2004 ausgezeichnet. wurde, macht das Buch es dem Leser nicht einfach. Wie für die Ewigkeit gemeißelt kommen die Sätze der erlesenen Hollinghurstschen Prosa daher und scheinen doch zunächst nichts anderes als Belanglosigkeiten und Banalitäten zu berichten – bis man entdeckt, dass die Belanglosigkeiten eben das Wesen dieser Gesellschaft ausmachen. Es handelt sich um ein System der Oberflächlichkeiten, unter deren wechselnden Masken entweder die Begierden der Jugend oder die entsagungsvollen Routinen des Erwachsennelebens ausgelebt werden. Was das ganze mit Schönheit oder mit der Schönheitslinie zu tun hat, erschließt sich aber nur indirekt. Während die „Schönheitslinie“ anfänglich wie ein ästhetisches Muster definiert wurde, erscheint sie,  je weiter das Buch voranschreitet,  immer mehr wie die „Linie“, mit denen  sich Wani und Nick ihr Kokain konsum- und schnupfgerecht einteilen, damit sie die Welt wenn schon nicht als schön sondern so wenigstens als erträglich erkennen können. Trotz dieser tristen Messsage ist das Buch allerdings stilistisch und poetologisch der reine Lesegenuss. Hollinghursts Anwendung der  James´schen  Bewusstseinsstromtechnik gelingt derart perfekt, dass man für die Dauer der Lektüre mitunter glaubt, die Welt mit anderen Augen sehen zu lernen, wobei die Schönheit der Sprache und die Gewöhnlichkeit der Dinge einen Gegensatz erzeugen, den man so bald nicht vergessen wird.

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