Hulme: Unter dem Tagmond

Mit Büchern verhält es sich manchmal wie mit neuen Schuhen. Zuerst kommen sie einem merkwürdig und unpassend vor, und man fragt sich, ob man je in ihnen heimisch werden wird. Ein solches Buch ist auch das vielgerühmte „Unter dem Tagmond“ von Katie Hulme. Schon der ambitionierte poetische Einstieg, in dem ein ganz hoher, ungewohnter Ton angeschlagen wird,  erfordert vom Leser ein gerütteltes Maß an Leidensfähigkeit, und auch auf den nächsten einhundert Seiten wird es nicht besser. Aber ich wollte mich nicht entmutigen lassen. Schließlich handelt es sich um einen „exemplarischen Roman Neuseelands“ und außerdem noch um einen Booker Price Winner. Da muss man sich einfach auch als Leser mehr ins Zeug legen, sagte ich mir. Immerhin spielt die Handlung auf einer mitreißenden Bühne: im regendurchtobten Westen Neuseelands (das ist allerdings wieder keine gute Nachricht für Neuseeland-Urlauber), wo die Brandung der Tasmansee mit ozeanischer Wucht gegen die Felsen schlägt und die Strandfliegen herrschen.

Kerewin ist der Name der weiblichen Hauptfigur, sie lebt als wohlhabende Frau in einem turmartigen Haus zurückgezogen von der Welt und frönt ihren Passionen. „Ich bin nicht vergewaltigt oder sitzengelassen oder missbraucht worden“, sinniert Kerewin auf S. 392 über sich selbst.  „Ich bin die Außenseiterin, die Sonderbare in meiner Familie, denn sie sind alle normal und voller Gefühl. Soweit ich zurückdenken kann, mochte ich keine enge Berührung. Ich scheue davor zurück, weil ich immer das Gefühl habe, dass der andere Mensch etwas aus mir herauszieht.“

Ausgerechnet dieser seelischen und sozialen Monade läuft eines Tages ein rätselhaftes Kind zu, Samuel oder Sam, eine Art Gollum, stumm und dreist, das sie in ihrer Hilflosigkeit rührt und ihre Einsamkeit durchbricht. Die Bekanntschaft des rätselhaften Kindes und der einsamen Frau führt zum Kontakt mit John, dem Pflegevater des merkwürdigen Wesens. Gleichsam im Zeitlupentempo, von Abendessen zu Abendessen, wird nun das Kennenlernen der drei minuziös entfaltet, ihre Marotten, ihre Vorgeschichte und ihre Ziele. So stellt sich heraus, dass Sam wahrscheinlich der Spross einer irischen Earlgeschlechts ist (oder doch der Sohn eines drogenabhängigen Hippies, wie es am Ende des Buches heißt?), dass John ein Maori ist und Kerewin im Streit mit ihrer Familie lebt. Erst nach und nach kommt aber auch ans Licht, dass der so gütig daher kommende John seinen merkwürdigen Sohn bei jeder Unbotmäßigkeit wie einen Christus verprügelt. Das irritiert Kerewin, und als sie Zeuge eines solchen Übergriffes wird, stellt sie sich vor Sam und schlägt den Maori zu seiner Überraschung (und zu der des Lesers) nieder. Macht aber nichts, denn bald vertragen sie sich wieder und hocken einträchtig vereint im Ferienhaus von Kerewins Familie und lauschen dem endlosen Regen an der winterlichen Westküste Neuseelands. Während solcher trister Tage berichtet John von seiner ebenso tristen Jugend, von seiner wahnsinnigen Mutter, der desolaten Familie, dem Tod seiner Frau  und den Gewaltverhältnissen, in denen sich sein Leben bisher abspielte. Nach und nach treten auch die Personen aus Kerewins, Johns und Sims Umgebung stärker ins Licht, lauter einfache Leute, die an der stürmischen Westküste Neuseelands ihr hartes Leben verbringen und deren bevorzugte Freizeitbeschäftigung das Saufen ist. Und es wird wahrlich viel gebechert in dem vorliegenden Buch. Nicht allein, dass der kleine Sam an Alkohol gewöhnt wird, Kerewin säuft sich in den Stunden ihres Kummers fast zu Tode, und John hält es nicht anders. Langsam wie die neuseeländische Kontinentaldrift, die die Berge der Südinsel jedes Jahr um zwei Millimeter steigen lässt, schreitet auch die Romanhandlung voran – und endet im Desaster. Als Sim wegen seines notorischen Klauens wieder eine Tracht Prügel von Joe erhält, sticht er seinem Pflegevater einen Glasdolch in den Bauch. Kerewin, immer lebensangeekelter, entdeckt eine Geschwulst in ihrem Unterleib, und Joe muss wegen Kindesmisshandlung ins Gefängnis. Am Ende  nimmt der Roman irrlichternde Züge an. Joe, der sich nach seinem Gefängnisaufenthalt, das Leben nehmen will, wir von einem alten Maorihäuptling  gerettet und mit einem rätselhaften Mythos konfrontiert, den weder er noch der Leser versteht. Sam, von den Misshandlungen des Vaters genesen, wird in eine Heim eingewiesen,  bricht aus und schlägt sich als kleiner Vagant durch die Lande, während Kerewin ihren Turm verlässt um sich zum Krebstod niederzulegen. Doch sie übersteht ihren Krebs (keiner weiß, wieso), nimmt wieder zu und engagiert sich beim Bau eines Maori-Hauses. Am Ende, in einer Art  Maorihimmel (die an die Strandszene von „The Tree of Life“ erinnert), kommen alle wieder zusammen – Kerewin, John und Sam, die Nachbarn, die Familie, und wenn sie nicht gestorben sind, dann lesen sie noch heute.

Am Ende habe ich mich nur noch gewundert – gewundert unter anderem auch darüber, warum ich 640 Seiten lang bei der Stange geblieben bin. Auch wenn das Buch poetische Stellen von großer Kraft enthält und in einer ausgefeilten Sprache verfasst ist, war die Lektüre inhaltlich eine Qual – eine derartige Diskrepanz von sprachlicher Ausgefeiltheit und inhaltlicher Langeweile habe ich noch nie erlebt. Möglich, dass es an mir liegt, aber ich habe mich redlich bemüht, ohne sonderlich viel Neues über Neuseeland zu erfahren. Um das Beispiel mit den Schuhen vom Beginn dieser Rezension wieder aufzugreifen: der Schuh, respektive die Lektüre, drückte auch am Ende des Buches noch ganz gewaltig, und ich war froh, wieder barfuß weiterzulaufen.

 

 

 

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