Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Immer mehr Romane schmücken sich mit Etiketten, die eher an Sachbuchtitel als an Belletristik erinnern. Wahrscheinlich war Milan Kundera mit „Die unbeschreibliche Leichtigkeit des Seins“ der erste. Der nächste war Stan Nadolny mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“, knapp gefolgt von Mulischs „Die Entdeckung des Himmels“. „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann macht da nur insofern eine Ausnahme, als es sich wirklich um ein halbes Sachbuch handelt, oder um genau zu sein: um eine romanhaft bearbeitete Doppelbiographie von  Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.  Was steht drin?

Das Buch beginnt im Jahre 1828 mit der Reise Carl Friedrich Gauß, des „Fürsten der Mathematik“ nach Berlin, um Alexander von Humboldt zu treffen, der noch immer vom Weltruhm seiner großen Südamerikareise zwischen 1799 bis 1804 zehrt. Die beiden Koryphäen, jeder für sich ein Alphatier im Reich des Geistes, haben sich kaum getroffen, da beginnt eine retrospektiv erzählte biographische Doppelreise, die jedem, der einen amüsanten und flott erzählten Einstieg in die Welt um 1800 sucht, nur empfohlen werden kann. Die Gesellschaft der spanischen Kolonien, die ungelösten Rätsel der Mathematik, Elektrofisch und Orinoko, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Erdkrümmung, Chimborazzo und Burschenschaften  – wie ein buntes Kaleidoskop ziehen die Episoden zweier Leben wie an einer nebeneinander liegenden Doppelschnur aneinander vorüber, und man wird nicht sagen können, dass man sich dabei nur eine Minute langweilen würde. Wie Gaus in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um sich eine Formel zu notieren, wie Goethe mit seiner Anhänglichkeit an Farbenlehre und Neptunismus als Depp erscheint,  wie ein fanatischer deutscher Turner sich auf seine beinharte Wade klopft und schreit “Wie diese Wade sei, so muss Deutschland werden“ – all das hat Witz, Kurzweil und Geist.

Aber hinter den erzählerischen Qualitäten des Buches befindet sich ein literarisches und inhaltliches Konzept, das als implizite Kritik an den beiden Geistesgrößen verstanden werden kann: Denn die Vermessung der Gestirne, der Fremde und der Heimat, die Gauß und Humboldt unermüdlich vornehmen, öffnet unwillkürlich die Augen für das Unvermessbahre und Unendliche, für das Phänomen der menschlichen Freiheit, die bei den beiden Vermessungsheroen eher als Störgröße erscheint – von Humboldt durch die denkbar exakteste Planung, von Gauß mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung eliminiert. Die menschliche Flachheit (und mitunter auch die charakterliche Ununterscheidbarkeit) der beiden Protagonisten lässt beim Lesen geradezu ein Bedürfnis nach Poesie entstehen, das im Buch, möglicherweise mit Absicht, nicht gestillt wird. Dass man am Ende des Buches die beiden unpoetischen und deterministischen Protagonisten fast ein wenig über hat und dass die  Sympathie  dem unglücklichen, unbegabten  aber poetisch veranlagte Eugen Gauß gehört,  wird deswegen. keinen Liebhaber der Literatur überraschen.

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