Kempowski: Alles umsonst

Walter Kempowski, der so lange unterschätzte große Chronist der deutschen Nachkriegsgeschichte hat sich unmittelbar vor seinem Tod an eines der schwierigsten Kapitel der jüngeren Vergangenheit herangewagt: an die Geschichte der Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Wie kontrovers dieses Thema noch immer behandelt wird, zeigen die Konflikte um das „Zentrum gegen Vertreibung“, in dem zahlreiche Stimmen auch in Deutschland ein Instrument des Revisionismus sehen.

Der vorliegende Roman lässt sich auf diese Frontstellungen überhaupt nicht ein, er bietet kein Gesamtpanorama, keine Gesamtbewertung sondern stellvertretend für alle anderen verlorenen Gebiete das mit Liebe und Melancholie gezeichnete Bild der letzten Tage Deutschlands in Ostpreußen.
Die Handlung des Romans setzt ein mit der Jahreswende 1944/5, die Russen stehen bereits an der Grenze, doch die Front erstarrt in trügerischer Ruhe. Auf Gut Georgenhof in der Nähe der Ortschaft Mitkam wird noch einmal Weihnachten gefeiert, als wären die Zeiten noch normal. Die Herrin des Hauses, die schöne, weltabgewandte Katharina von Globig, die Verwalterin des Gutes, das „Tantchen“ und der 12jaehrige Peter als Sohn des Hauses beten, essen und musizieren und denken an Vater Globig, der als Wehrmachtsoffizier in Italien weilt. Wie ein Miniaturisierung der alten deutschen Suprematie in Osteuropa wirkt die Zusammenstellung des restlichen Hauspersonals: der treue Pole Wladimir versieht die Stall- und Hausmeisterdienste, und zwei ewig zänkische Mädchen aus der Ukraine versorgen die Küche.
Zuerst will die Handlung nicht recht in Schwung kommen, dann aber merkt man, dass sie einer Schlinge gleicht, die sich immer enger um die kleine Gemeinschaft von Mitkau zusammenzieht. Zuerst erscheinen nur vereinzelte, versprengte Wanderer aus dem Osten, die noch freundlich aufgenommen und beköstigt werden, dann setzt Anfang Januar 1945 das Donnergrollen der wieder erwachten Front ein, und der Flüchtlingsstrom schwillt an. Ein ganzer Querschnitt der Ostgesellschaft wird nun auf Hof Georgenhof einquartiert, ein unverschämter baltischer Baron aus Riga, dann einfache Baltendeutsche, schließlich eine immer weiter anschwellende Armada von Flüchtlingstrecks, die kommen, schlafen und weiterziehen. Kontrolliert und geplant wird die schrittweise Evakuierung vom Naziwart Drzygalski, der jede Spur von Defaitismus verfolgt und mit seinen Evakuierungsbescheiden höchst sparsam umgeht ( Am Ende wird er abhauen und seine kranke Frau einfach zurücklassen ). Inmitten dieser zunehmenden Fluchtbewegungen verharren die Verhältnisse auf Gut Georgenhof in scheinbarer Beständigkeit. Der kleine Peter lauft mit seinem Mikroskop durch die Gegend und beäugt merkwürdig unbeteiligt die Dinge aus allen nur möglichen Distanzen, das „Tantchen“ versucht das Ausmaß der Diebstähle in Grenzen zu halten, nur die Gutsherrin Katharina last sich in einem sentimentalen Moment vom Dorfpfarrer dazu überreden, einen flüchtigen Juden für eine Nacht zu beherbergen.
Erst als die russische Front näherrückt und die Beherbergungsaktion Katharina von Globigs auffliegt, geraten die Dinge in Bewegung. Die Mutter wird verhaftet, „Tantchen“, Peter, der Pole Wladimir und eine der beiden Ukrainerinnen packen ihre Sachen und schließen sich den Flüchtlingstrekks an. Nacheinander kommen dabei alle um, überrollt, von Bomben getroffen, erschossen wie die Mutter Katharina, aufgehängt wie der Pole Wladimir, kaum eine Todesart bleibt ausgespart auf dem Treck der Millionen, der doch nur in die Irre führt, weil im Westen die Russen bei Allenstein bereits den Weg ins Reich versperren. Am Ende schafft es nur Peter bis ans Meer, er erhält sogar einen Platz auf einer Barkasse für ein Flüchtlingsschiff, wobei aber unklar bleibt, ob er die Fahrt über die Ostsee überleben oder Opfer eines russischen Torpedoangriffes werden wird.
Damit endet das Buch und lässt den Leser ein wenig ratlos zurück. Wer Spektakuläres über Nazigräuel und die Exzesse der Roten Armee erwartet hat, wird enttäuscht, beides bildet nur das Bühnenbild für den Abschied eines ganzen Volkes aus seiner Heimat. Die Vielfalt dieses Volkes wird in Form zahlreicher psychologisch sparsam aber effektvoll in Szene gesetzter Figuren charakterisiert. Werturteile, Gejammer oder Anklagen wird man in dem Roman vergeblich suchen. Dafür ist es voller schmerzhaft einprägsamer Bilder, die man nicht so schnell vergessen wird – etwa die Evakuierung der Alten und Gebrechlichen mit ihren Schläuchen und Kathedern auf baufälligen Karren oder der endlose Bandwurmzug der Flüchtlinge – vom Hügel eines stolzen Dichterhauses aus gesehen, dessen Besitzer schon längst das Weite gesucht hatte. So endet nicht nur die deutsche Geschichte in Ostpreußen – mit diesen Bildern und Sentenzen endet auch der  Roman und mit ihm das Leben Walter Kempowskis, der kurz nach der Veröffentlichung dieses Buches verstarb.

 

 

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